Bewegungen
arbeitender Kinder und Jugendlicher
Weltweit
arbeiten nach Schätzungen der ILO (International Labour
Organisation) ungefähr 350 Millionen Kinder (im Alter
von 5 bis 17 Jahren). Die meisten arbeiten in der Landwirtschaft
(z. B. subsistenzorientierte Familienökonomie, Exportplantagen)
und im sogenannten informellen Sektor der großen Städte
(z. B. auf der Straße, in Werkstätten, Haushalten wohlhabender
Familien und anderen Dienstleistungen). Diese Kinder arbeiten,
um für sich und ihre Familien Geld zu verdienen, aber nutzen
ihren Verdienst vielfach auch, um sich eine Schulbildung zu finanzieren.
Die meisten von ihnen leben und arbeiten unter Bedingungen, die
ihre Menschenwürde verletzen und ihre persönliche Entwicklung
gefährden.
Um
sich dagegen zu wehren, haben sich erstmals Ende der 70er Jahre
in Lateinamerika (seit den 90er Jahren auch in Afrika und in Teilen
Asiens) arbeitende Kinder zu sozialen Bewegungen zusammen geschlossen.
Gemeinsam woll(t)en sie für bessere Arbeitsbedingungen, Respekt
und Partizipation kämpfen.
In
der Praxis findet man zwei verschiedene Formen von Kinderbewegungen,
die sich in der Art und Weise ihrer Entstehung unterscheiden.
Zum einen wird von spontanen Formen der Selbstorganisation arbeitender
Kinder gesprochen, die hauptsächlich an ihren Lebens- und
Arbeitsorten in den Städten oder Regionen entstehen. Aufgrund
von z. B. Erfahrungen oder Auseinandersetzungen mit skeptischen
bis feindlichen Erwachsenengruppen werden diese von den Kindern
meist selbst initiiert.
Zum
anderen haben sich Organisationsformen entwickelt, die über
landesweit angelegte Strukturen verfügen. Bei dieser zweiten
Form der Kinderbewegung geht die Initiative oft von Erwachsenen
oder Jugendlichen aus, die sich für die Rechte und Belange
der Kinder einsetzen. Gleichwohl steht die Mitwirkung von Erwachsenen
dem Autonomieanspruch der Kinderbewegungen weder in dieser noch
in der erst genannten Form entgegen. Aufgrund des marginalen Status
der Kinder und ihrer geringeren sozialen Anerkennung als handlungs-
und organisationsfähige Subjekte ist die Unterstützung
von Erwachsenen oder Jugendlichen meist sogar unvermeidlich. Sie
wird sogar von den Kindern oft selbst gewünscht. Hervorzuheben
ist allerdings, dass die Erwachsenen nicht leitende, sondern beratende
Funktionen wahrnehmen, d.h. die Kinder in jeder Hinsicht bei der
selbständigen Artikulation und Organisierung ihrer Interessen
und Rechte respektieren und unterstützen.
Bei
aller Verschiedenheit der Organisationsformen, der Herkunft und
des kulturellen Kontextes der sich in allen Kontinenten organisierenden
Kinder lassen sich einige Gemeinsamkeiten erkennen. Die arbeitenden
Kinder
-
schaffen in gemeinsamer Anstrengung und Verantwortung eigene
Ziele und selbstbestimmte Normsysteme und Strukturen.
-
berufen
sich auf die weltweite Verbindlichkeit der Menschenrechte,
insbesondere der Rechte, die in der UN-Konvention über
die Rechte des Kindes (1989) festgelegt sind.
-
fordern
neben Respekt und Anerkennung ihrer Arbeit auch Partizipation
in allen sie betreffenden Belangen.
Vor
allem wenden sich die arbeitenden Kinder und Jugendlichen dagegen,
ihre Arbeit zu verbieten und abschaffen zu wollen. Statt dessen
verlangen sie, Armut und Ausbeutungsverhältnisse ins Visier
zu nehmen und die Kinder dabei zu unterstützen, bessere Arbeitsbedingungen
zu erreichen sowie in Würde und freier Entscheidung arbeiten
zu können. Die Kinder – unabhängig, ob in Asien,
Lateinamerika oder Afrika – wollen weiter ihre Familien
unterstützten und eine anerkannte, aktive Rolle in ihrer
Gesellschaft spielen. Mitunter haben die Initiativen der Kinderbewegungen
auch schon dazu beigetragen, ihre Lebenssituation zu verbessern.
Die
Forderungen der Kinderbewegungen stoßen weltweit jedoch
auf große Widerstände. Ein Grund dafür ist sicherlich,
dass die Vorstellungen und Forderungen der Bewegungen arbeitender
Kinder und Jugendlicher sich oft nicht mit dem decken, was Regierungen
und internationale Organisationen wie die ILO für
richtig halten. Ein nicht minder wichtiger Grund sind die grundverschiedenen
Paradigmen von Kindheit, die aufeinanderstoßen. Die Kinder
bestehen darauf, als arbeitende Kinder anerkannt zu werden. Dies
widerspricht jedoch der gängigen (vor allem in den Industrienationen
vorherrschenden) Vorstellung sowohl einer „beschützten
Kindheit“, für deren Wohl die Erwachsenen zuständig
sind, als auch die Vorstellung, dass Kindheit und Arbeit sich
ausschließen. Von daher sind die Aktionen beider Seiten
verschieden angelegt: die einen wollen Gleichberechtigung –
die anderen Schutz. Hier einen Konsens zu entwickeln, wird Aufgabe
künftiger Treffen sein.
Neben
dem verstärkten Einfluss, den arbeitende Kinder in der Gesellschaft
zu erlangen versuchen, verstehen sie ihre Organisation auch als
ein Mittel, um ein besseres Leben herbeizuführen. Zum Beispiel
wird die Bewegung als Schutz vor Ausbeutung, schlechter Behandlung
und der Geringschätzung durch die Gesellschaft wahrgenommen.
Innerhalb ihrer Organisation fühlen sich die Kinder als würdige,
fähige und vollwertige Personen und empfinden Stolz für
ihre Arbeit. Dort können sie sich auch bilden, finden Raum
für Solidarität und für die Erarbeitung von Vorschlägen
und Alternativen zum bestehenden System von Armut und Gewalt,
das für sie unzumutbar ist.
Die
besondere Bedeutung der Kinderbewegungen besteht somit darin,
dass sie das Selbstbewusstsein und die Fähigkeiten der Kinder
stärkt, ihre Interessen zu formulieren und sich in der Öffentlichkeit
zu artikulieren, um ihre Rechte mit dem Anspruch der Gleichberechtigung
auch selbst in die Hand zu nehmen.
Finanziert
werden die Kinderbewegungen über verschiedene Wege. Beispielsweise
arbeiten diese Organisationen mit NGOs und anderen ihnen wohlgesonnenen
Institutionen zusammen, die sie auch finanziell unterstützen.
Des weiteren gibt es in den meisten Kinderbewegungen Mitgliedsbeiträge,
die unterschiedlich eingezogen werden. Einige Organisationen stellen
Mitgliedskarten her, dessen Kaufpreis als Mitgliedsbeitrag gezählt
wird, oder der Beitrag wird direkt vom Lohn jedes Mitglieds bezahlt.
Auch werden Veranstaltungen (z. B. Theatervorstellungen, Fußballspiele)
und Arbeitsprojekte (z. B. Herstellung von Kunsthandwerk) von
den Bewegungen organisiert, um deren Einnahmen wiederum für
Aktivitäten der Kinderbewegung zu verwenden. Manche Kinderbewegungen
haben einen Solidaritätsfond geschaffen, aus dem lebensnotwendige
Ausgaben einzelner Kinder bestritten werden, die anders ihre Notlage
nicht bewältigen können. Das Geld für den Fond
erbitten sie zum Beispiel von Geschäftsleuten, Ärzten
und anderen Personen, die über Ressourcen verfügen,
oder zahlen selbst einen Teil ihres Verdienstes ein.
Abschlusserklärung
des I. Welttreffens der arbeitenden Kinder und Jugendlicher
in Kundapur, Indien, vom 24. Nov. bis 8. Dez. 1996
1.
Wir wollen, dass unsere Probleme, unsere Vorschläge,
Bemühungen und Organisationen beachtet und anerkannt
werden.
2. Wir sind gegen den Boykott von Waren,
die von Kindern gemacht wurden.
3. Wir wollen Respekt und Sicherheit
für uns und die Arbeit, die wir leisten.
4. Wir wollen Unterricht, in dem wir
etwas über unsere Situation und für unser Leben
lernen.
5. Wir wollen eine Berufsausbildung,
die unseren Fähigkeiten und unserer Lebenssituation
entspricht.
6. Wir wollen eine gute Gesundheitsversorgung,
die für arbeitende Kinder zugänglich ist.
7. Wir wollen bei allen Entscheidungen
gefragt werden, die uns betreffen, egal ob diese Entscheidungen
in unseren Städten, Dörfern, unseren Ländern
oder international getroffen werden.
8. Wir wollen, dass die Ursachen für
unsere Situation, vor allem die Armut, benannt und bekämpft
wird.
9. Wir wollen, dass auf dem Land Lebensmöglichkeiten
erhalten oder geschaffen werden, so dass Kinder nicht
in Städte abwandern müssen.
10. Wir sind gegen Ausbeutung unserer
Arbeit, wir wollen in Würde arbeiten und Zeit zum
Lernen, Spielen und Ausruhen haben.
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Die
Vernetzung der regionalen und nationalen Bewegungen bzw. erste
Ansätze einer internationalen Koordination entstanden auf
dem Ersten
Welttreffen 1996
in Kundapur, Indien. Die gleichbenannte Deklaration war die erste
gemeinsame Artikulation von arbeitenden Kindern aus Afrika, Asien
und Lateinamerika (s. Kasten: Abschlusserklärung Kundapur),
auf dessen Richtlinien sich bis heute die Bewegungen berufen.
Seitdem
haben in regelmäßigen Abständen weitere internationale
Begegnungen mit weitgehend informellem Charakter in Huampanì
(Peru, 1997), Dakar (Senegal, 1998) und Mailand (Italien, 2002)
statt gefunden. Beim Mailänder Treffen haben die dort beteiligten
Delegierten beschlossen, dass das Zweite Welttreffen arbeitender
Kinder und Jugendlicher in Berlin (Deutschland, vom 18. April
– 15. Mai 2004) statt finden soll.
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