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„Ich bin alt genug, um zu arbeiten“

Kindheit – behütete Zeit? Weltweit müssen Millionen von Kindern arbeiten gehen, um sich und ihre Familien zu ernähren. In Berlin treffen sich zurzeit Kinder aus Entwicklungsländern, um auf ihr Los aufmerksam zu machen. Sie fordern aber kein Verbot der Kinderarbeit – im Gegenteil.

Von Christiane Wolters

Berlin - 40 Grad, die Luft ist trocken und staubig. In dem niedrigen Schacht kann man sich nur auf allen Vieren fortbewegen. Mühelos findet Genaro in dem Gewirr von Gängen seinen Weg. Für den 14-Jährigen ist die Silbermine im bolivianischen Potosí fast sein zweites Zuhause, denn seit er acht Jahre alt ist, arbeitet er hier. "Ich bin alt genug, um meinen Eltern zu helfen und auch etwas Geld beizusteuern", sagt er.

Es gibt viele Kinder wie Genaro. Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO arbeiten weltweit rund 250 Millionen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren. Sie verkaufen als Straßenverkäufer Kaugummis und Zigaretten, sie putzen Schuhe, knüpfen Teppiche oder arbeiten auf dem Feld - oft vom frühen Morgen bis zum späten Abend und bei schlechten Arbeitsbedingungen.

Während in den westlichen Industriestaaten das Ideal der behüteten und unbeschwerten Kindheit hochgehalten wird, haben Kinder in der Realität der Entwicklungsländer oft keine andere Möglichkeit, ihr Überleben zu sichern.

"Recht auf Arbeit"

Rund 30 Kinder, für die das Arbeiten zum Alltag gehört, sind derzeit in Berlin im Freizeit- und Erholungszentrum Wuhlheide (FEZ). Sie kommen aus 23 Ländern, zum Beispiel aus Burkina Faso, Bangladesch, der Mongolei oder Kolumbien. Als Delegierte der "Bewegungen arbeitender Kinder und Jugendlicher" wurden sie zum Welttreffen nach Deutschland gesandt, um die Interessen ihrer Organisationen zu vertreten.

Organisiert wird das Treffen vom "Initiativkreis gegen Ausbeutung und für die Stärkung der arbeitenden Kinder ProNats", dessen italienischer Partnerorganisation ItaliaNats und dem FEZ. Finanzielle Unterstützung - etwa für die Flüge der Kinder - sei von vielen verschiedenen Organisationen gekommen, erklärt Manfred Liebel von ProNats.

In vielen Entwicklungsländern haben Kinder in den vergangenen Jahrzehnten Organisationen gegründet, um für ihre Rechte zu kämpfen und ihre Situation zu verbessern. Bereits 1996 gab es ein Welttreffen der verschiedenen Bewegungen im indischen Kundapur. Nun sind die Kindervertreter aus Asien, Afrika und Lateinamerika nach Berlin gekommen, um auch die Europäer auf sich aufmerksam zu machen.
Das zweiwöchige Treffen steht unter dem Motto "Ja zur Arbeit - Nein zur Ausbeutung!", und dieses Motto sagt bereits viel über die unterschiedlichen Lebenswelten in Industrie- und Entwicklungsländern aus. So ist Kinderarbeit hier zu Lande - aus guten Gründen - zwar verpönt, ihre weltweite Abschaffung erscheint einer Mehrheit wünschenswert. Doch die "Bewegungen arbeitender Kinder und Jugendlicher" sehen das ganz anders. Sie fordern das Recht auf Arbeit für sich ein. "Wir fühlen uns verantwortlich und würdig, um zu arbeiten", erklärt etwa die 15-jährige Angie aus Kolumbien. "Von was sollen wir auch leben, wenn wir nicht arbeiten?", fragt sie.

Auf die Straße, um die Schule zu bezahlen

Der 16-jährige Joel aus Paraguay stimmt ihr zu: "Wir können doch nicht dabei zuschauen, wie unsere Eltern sich abrackern und selbst nichts tun." Joel, der in der Hauptstadt Asunción lebt, hat mit acht Jahren angefangen zu arbeiten. Er ist ein so genannter "vendedor ambulante" - ein Straßenverkäufer, der Süßigkeiten und Zigaretten feilbietet.

Sein Verdienst ist für ihn wichtig, denn er bezahlt davon unter anderem sein Schulgeld. In einem Jahr wird er das "Colegio" abschließen, berichtet er stolz. In der Schule gebe er sich immer sehr viel Mühe, denn schließlich arbeite er hart dafür, sie überhaupt besuchen zu können.

Für Joel wie für seine Mitstreiter aus aller Welt ist Kinderarbeit an sich nichts Negatives. In Europa und anderen Industriestaaten sei die Sichtweise etwas limitiert, glaubt er. Denn diejenigen, die Kinderarbeit am liebsten verbieten würden, verstünden nicht, dass viele Kinder zum Beispiel nur zur Schule gehen können, weil sie selber Geld dafür verdienen. "Wir können arbeiten und gleichzeitig noch spielen und lernen. Das schließt sich nicht aus", sagt Joel.

Ein Verbot der Kinderarbeit schade Kindern nur, denn dadurch werde ihr Handeln kriminalisiert. "Wir haben aber ein Recht darauf zu arbeiten."

Von dem Welttreffen erhoffen sich die Kinder, dass mehr Menschen auf ihr Anliegen aufmerksam werden und dass sie vor allem auch endlich bei den internationalen Entscheidungsträgern Gehör finden. "Die Vereinten Nationen oder die ILO fragen uns nicht nach unserer Meinung", ärgert sich Joel. "Dabei sind wir alle gewählte Vertreter." Er selber ist der Delegierte der lateinamerikanischen Bewegung. Vorher wurde er von seiner Basisgruppe, später von der paraguayischen Gruppe gewählt. Alles laufe hochdemokratisch ab, erklärt er.

Vielsprachige Demokratie

"Meeting Room - Plenario - Plenaire" steht an dem Raum, in dem die Kinder und Jugendlichen sich zur Diskussion treffen. Die drei Delegationen sitzen im Halbkreis um eine Tafel: links die Afrikaner, in der Mitte die Asiaten und rechts die Lateinamerikaner. Die Vertreter der verschiedenen Gruppen tragen der Reihe nach ihre Standpunkte vor, danach gibt es die Möglichkeit für Rückfragen.

Trotz der komplizierten Übersetzungsprozesse sitzen die Kinder hochkonzentriert auf den Stühlen oder dem Boden und warten, bis auch das kleinste Detail eines Vorschlags der lateinamerikanischen Delegation aus dem Spanischen ins Englische und schließlich ins Mongolische übersetzt ist - die Übersetzer der asiatischen Delegation haben besonders viel zu tun, denn die Delegierten sprechen fast alle verschiedene Sprachen oder zumindest unterschiedliche Dialekte.

Weltbewegung für mehr Öffentlichkeit

Eines der Ziele des zweiwöchigen Treffens ist es, eine Weltbewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher zu gründen. Man hofft, dass diese international stärkere Beachtung finden wird, als es bisher die regionalen Bewegungen getan haben. Außerdem wollen die Kinder in einer gemeinsamen Abschlusserklärung ihre Forderungen bündeln. Sie verlangen beispielsweise bessere Bildungsmöglichkeiten und eine kostenlose Gesundheitsversorgung. Zentrales Anliegen ist für sie, dass ihre Organisationen anerkannt und ernst genommen werden und sie in allen Angelegenheiten, die sie betreffen, mitbestimmen können.

Die Kinderdelegierten arbeiten zunächst in kleineren Gruppen - später diskutieren sie im Plenum. Thema sind zum Beispiel die Erfahrungen, die die Kinder mit verschiedenen internationalen Konventionen und Abkommen zum Schutz der Kinder gemacht haben, etwa mit dem ILO-Übereinkommen 138 aus dem Jahre 1973. In diesem wird festgelegt, dass Kinder mindestens 15 Jahre alt sein müssen, um eine Arbeit aufzunehmen - bei besonders schweren Arbeiten gilt die Altersgrenze von 18 Jahren.

Die Bewegungen der arbeitenden Kinder lehnen diese Regelung ab. "Unsere Arbeitsbedingungen werden durch diese Abkommen nicht besser", sagt ein Junge aus der lateinamerikanischen Delegation. "Meine Meinung ist, dass diese Organisationen dadurch die Armut kriminalisieren."

Nach seiner Ansprache bedankt er sich bei seinen Mitstreitern höflich für ihre Aufmerksamkeit: Ein "merci" geht in Richtung Afrika, ein "thank you" nach Asien. "Gracias" schallt es zurück.

 

(Christiane Wolters, in: Spiegel Online, 28.4.2004)

 

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