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Die Unerhörten

Fast unbemerkt von der Welt wird in Berlin das Welttreffen der arbeitenden Kinder abgehalten

Von Jörg Schindler

Vielleicht ist es bezeichnend, dass dieses "Welttreffen" ganz weit draußen stattfindet, so weit weg von Kanzleramt, Parlament und Berlins Botschafterviertel, wie es eben geht, im ersten Stock des ehemaligen Pionierpalastes der DDR, links hinter dem Imbissstand, in dem die Küche heute kalt bleibt und morgen vermutlich auch. Vielleicht ist es von der Öffentlichkeit, ist es von den Medien und den gemeinen Politikern auch einfach zu viel verlangt, mit den Forderungen klarzukommen, die hier formuliert werden. Dass jemand gegen Kinderarbeit ist, doch doch, das leuchtet ein, das war schon immer so, da ist man sich einig. Aber dass man auch dafür sein kann? Zumal, wenn man gerade die Pubertät erreicht hat? Seltsam.

Seit einer Woche also stecken im Freizeitzentrum Wuhlheide in weiß gekalkten, klassenzimmerartigen Räumen Menschen aus Mali, Nepal und Peru, aus Bolivien, Burkina-Faso und der Mongolei, Menschen, die nicht viel älter sind als 15, 16 Jahre, ihre Köpfe zusammen. Menschen wie Salahuddin aus Bangladesch, der auf eine bald zehnjährige Karriere als Abfallsammler zurückblicken kann. Wie Sandra aus Benin, die einer wohlhabenden Familie in Westafrika die Schuhe putzte. Wie Joel aus Paraguay, der sich früh morgens mit einer Kiste Süßigkeiten durch die Autobusse von Asuncion schlängelt und an normalen Tagen 10 000 Guaranies verdient, das sind ungefähr zwei Euro. Sie alle sind, wie 27 weitere Heranwachsende, Delegierte des "Welttreffens der arbeitenden Kinder" in Berlin. Es ist erst das zweite seiner Art und das erste in einem westlichen Industriestaat. Aber die Welt, sie nimmt bemerkenswert wenig Anteil an diesem Treffen. Dabei könnte es sich durchaus lohnen, den Mädchen und Jungen zuzuhören. Auch, wenn das ein verzwicktes Thema noch verzwickter macht.

Malochen beinahe wie Sklaven

Es gibt Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die besagen, dass weltweit etwa 350 Millionen Kinder zwischen acht und 17 Jahren arbeiten. Sie knüpfen Teppiche und nähen Hemden, die Europas preisbewusste Kunden in Aktionswochen und Schlussverkäufen zum Schnäppchenpreis erstehen. Sie pflügen Felder, pflücken Baumwolle und verspritzen Pestizide. Sie malochen in Minen oder auf dem Bau. Sie führen, Sklaven nicht unähnlich, den Haushalt reicher Leute, um die Schulden abzuzahlen, die ihre Eltern gemacht haben. Sie schmuggeln Drogen und töten in Rebellenarmeen. Und sie sind, weil Aids tödlich ist und Kinder seltener Aids haben, in stetig wachsender Zahl Sex-Touristen zu Diensten. Allein in Thailand, so die ILO, seien 200 000 Mädchen und Jungen unter 16 zur Prostitution gezwungen.

Organisationen arbeitender Kinder gibt es in Lateinamerika seit Mitte der 70er Jahre, in Afrika und Asien seit den 90ern. Sie streiten für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen und Bildungsmöglichkeiten sowie die rechtliche und soziale Anerkennung.Beim zweiten Welttreffen in Berlin debattieren noch bis zum 2. Mai 30 Delegierte aus 23 Ländern. Das Treffen wurde organisiert von ProNats (http://www.pronats.de/), einem Zusammenschluss von Einzelpersonen, Kirchen, Schulen sowie Initiativen. ind

Es ist dies kein erfreulicher Zustand. Aber auch kein neuer. Bereits 1973 handelten die ILO-Mitgliedsstaaten - besser gesagt: die wohlhabendere Hälfte der ILO - das Übereinkommen Nummer 138 aus. Es besagt, dass Kinder frühestens mit 15 Jahren, bei schweren Tätigkeiten erst ab 18 Jahren arbeiten dürfen. Seither gab es weltweit dutzende Symposien und Studien, in denen wortreich über die Ausbeutung von Kindern als billige Arbeitskräfte lamentiert wurde. Das Kinderhilfswerk Unicef appellierte mit Weihnachtsaktionen wie "Kleine Hände, krummer Rücken" an das Weltgewissen. Ein "Global March Against Child Labour" setzte sich unter großem Mediengetöse in Bewegung. 1999 kamen die ILO-Staaten erneut zusammen, um wenigstens die "besonders schlimmen Formen" von Kinderarbeit zu ächten. Doch die Zahl 350 Millionen blieb über all die Jahre hinweg einigermaßen konstant.

Über die Gründe ist trefflich debattiert worden. Sie haben unter anderem damit zu tun, dass sich Krieger, Zuhälter und Ausbeuter von Verträgen für gewöhnlich nicht beeindrucken lassen. Sie haben damit zu tun, dass manche Entwicklungsländer auf Kinderarbeit geradezu zwingend angewiesen sind, wollen sie am Weltmarkt wenigstens halbwegs konkurrenzfähig sein. Sie haben damit zu tun, dass westliche Verbraucher ziemlich klare Vorstellungen davon besitzen, was ein Paar Schuhe und ein Pfund Reis zu kosten haben. Und sie haben damit zu tun, dass es unter den betroffenen Kindern nicht wenige gibt, die die warmen Appelle des Westens zwar nett, aber vollkommen realitätsfremd finden.

Die Sache selbst in die Hand nehmen

"Ihr Europäer wisst zu wenig über unsere Lebensbedingungen", sagt etwa Joel Aquino, ein schmächtiger 16-Jähriger, den man bestenfalls für 13 halten würde, wenn sich nicht ein dunkler Flaum auf seiner Oberlippe abzeichnen würde. Ohne seine drei-, vierstündige Verkaufstour durch die Busse der Hauptstadt Asuncion könne er unmöglich die Schule besuchen, sagt der Junge aus Paraguay. Die Uniform, die Hefte, die Bücher: sie kosten. Aber das, was sein Vater auf dem Bau verdiene, reiche unmöglich, um die sechsköpfige Familie durchzubringen. Also müsse er arbeiten, so Joel, und er tue es gerne - solange er dabei nicht ausgebeutet oder diskriminiert werde. Um das zu verhindern, hat er mit seinem Zwillingsbruder in der Vorstadt San Antonio eine Organisation arbeitender Kinder gegründet.

Es gibt inzwischen überall auf der Welt kleine Gruppen renitenter Halbwüchsiger, die sich nicht länger sagen lassen wollen, was gut für sie ist, die ihre Sache selbst in die Hand nehmen, die sich organisieren, auf regionaler, nationaler, internationaler Ebene und Forderungen formulieren, die klingen wie diese: "Wir sind der Ansicht, dass es ein Recht gibt zu arbeiten, davon ausgehend, dass Arbeit dem Menschen Würde gibt. Sie ist eine Quelle des Lernens und des Familieneinkommens."

Um Missverständnisse zu vermeiden: Keiner der Kinderfunktionäre ist der Ansicht, dass Prostitution, das Töten von Menschen oder das Einatmen giftigen Staubs in ungesicherten Bergwerken kindgerechte Tätigkeiten sind. Das aber seien, anders als es die ILO formuliert, keine "besonders schlimmen Formen" von Kinderarbeit, sondern Verbrechen an Kindern, die es als solche zu ahnden gelte.

Den Delegierten in Berlin geht es um etwas anderes: darum, dass sie nicht von Polizisten weggesperrt werden, nur weil sie an einer Straßenkreuzung Cola verkaufen; dass sie nicht folgenlos getreten, bespuckt, geschlagen werden dürfen; dass sie den Lohn erhalten, den sie verdienen, und die Ausbildung, die sie brauchen; darum, dass ihre Arbeit anerkannt wird und sie elementare Rechte erhalten, so wie sie ihnen von manchen Stadtverwaltungen in Lateinamerika bereits zugebilligt wurden. "Ja zur Arbeit, Nein zur Ausbeutung", lautet die Losung des Welttreffens in Berlin.

Bis zum Wochenende werden sie dort noch zusammensitzen. Überlegen, wie sie ihre Interessen bündeln können. Strategien aushecken, um einer "Weltbewegung arbeitender Kinder" Schwung zu verleihen. "Wir haben große Erwartungen", sagt die senegalesische Delegierte Sophie Faye. Ein Treffen nicht irgendwo auf dem indischen Subkontinent oder in Lateinamerika, sondern in einer europäischen Hauptstadt, wo man gehört werde. "Das ist fast schon ein historischer Moment", sagt der 16-jährige Joel. Er sagt es mitten in der Wuhlheide, ganz weit draußen, fast nicht mehr in Berlin.

 

(Jörg Schindler, in: Frankfurter Rundschau, 28.4.2004)

 

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