Anmerkungen zum Report von terre des hommes über Kinderarbeit in Deutschland

„Kinderarbeit? In Deutschland?“ Kinderarbeitsreport 2024. Hrsg. v. terre des hommes Deutschland e.V.. Osnabrück, Juni 2024.

Die Kinderrechtsorganisation terre des hommes hat 2024 einen Report zu Kinderarbeit in Deutschland veröffentlicht. Der Report macht darauf aufmerksam, dass auch in diesem wohlhabenden Land weiterhin Kinder arbeiten. Er weist insbesondere auf Tätigkeiten und Bereiche hin, die bisher kaum beachtet und als Arbeit von Kindern gesehen wurden. Der Report zielt darauf ab, Lücken im Jugendarbeitsschutzgesetz zu schließen und zuständige Behörden für das Problem der Kinderarbeit zu sensibilisieren. Die Empfehlungen laufen darauf hinaus, das Verbot der Kinderarbeit auszuweiten und die Kontrollen zu verstärken. Die bekundete Absicht, den Kinderrechten im Falle der Arbeit von Kindern gerecht zu werden, wird damit nicht erreicht.

Bis 2025 wird „Kinderarbeit in allen ihren Formen“ abgeschafft sein. So verkündete noch vor wenigen Jahren die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die sich selbst die Meinungsführerschaft in Sachen Kinderarbeit zuschreibt, und in derselben Formulierung steht dies in Entwicklungsziel 8.7 der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Nun veröffentlicht kurz vor Erreichen dieses Entwicklungsziels eine renommierte deutsche Kinderhilfsorganisation einen „Kinderarbeitsreport“, in dem bekundet wird, dass selbst im wohlhabenden Deutschland weiterhin Kinderarbeit stattfindet. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sie dies ausdrücklich am 12. Juni, dem „Welttag gegen Kinderarbeit“, tut. Den hatte die ILO vor einigen Jahren ausgerufen, um den Willen der „internationalen Gemeinschaft“ zu befeuern, in dieser Anstrengung nicht nachzulassen, allerdings ohne ein einziges arbeitendes Kind dazu befragt zu haben. 

Eine Studie zur Arbeit von Kindern in Deutschland, die auch ihre verborgenen Ecken und Seiten ausleuchtet, hat lange auf sich warten lassen. Zwar gab es in Deutschland immer mal wieder lokale und stichprobenartige Erhebungen, zuletzt 2023 eine Analyse des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (zur Kritik siehe https://pronats.org/news/studie-zu-kinderjobs), aber keine fundierte qualitative Untersuchung. Hier verspricht der „Kinderarbeitsreport 2024“ von terre des hommes Abhilfe. Er widmet sich Feldern, die bisher kaum mit Kinderarbeit assoziiert wurden und basiert auf Workshops mit jungen Menschen zwischen 12 und 18 Jahren, in denen „mittels kindgerechter qualitativer Tools Art und Umfang ihrer Tätigkeiten besprochen und ebenso die Gründe für die Arbeit sowie ihre Einschätzung zu Handlungsmöglichkeiten für die Verbesserung ihrer Situation“ (Report, S. 5) ermittelt wurden.

Die Workshops fanden in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Brandenburg statt. An den Gruppendiskussionen nahmen insgesamt 37 Kinder und Jugendliche aus drei Schulen und einer Gruppe des Bundes der Deutschen Landjugend teil. Laut Report kamen sie „aus ärmeren und wohlhabenderen Gegenden, aus Städten und vom Land, von Haupt-, Gesamt- und Förderschulen und Gymnasien“ (Report, S. 47). Weitere Angaben zur Auswahl der Teilnehmer*innen, zum Zustandekommen der Daten und ihrer Interpretation werden nicht gemacht. Auch ist nicht erkennbar, ob die Kinder und Jugendlichen an der Interpretation der Ergebnisse beteiligt waren. Auch der im April 2025 veröffentlichte Bericht von einer Fachtagung des Deutschen Instituts für Menschenrechte zum Kinderarbeitsreport (siehe Link am Ende dieses Artikels) gibt darüber keine genauere Auskunft. Repräsentativität im statistischen Sinn beansprucht die Studie nicht.

Besonders bemerkenswert ist, dass der Report auch auf Tätigkeitsbereiche eingeht, die in Deutschland bisher nur wenig Aufmerksamkeit gefunden haben: die Pflegearbeit von Kindern in Familien mit kranken Angehörigen (in englischsprachigen Studien „Young Carers“ genannt) und die Einbeziehung von Kindern in das Business sogenannter „Familieninfluencer*innen“. Informationen zu diesen beiden Schwerpunkten wurden zusätzlich zu den Workshops zusammengetragen. Diese Tätigkeitsbereiche sind Beispiele dafür, dass die Arbeit (nicht nur) von Kindern längst über die traditionelle Arbeitswelt hinausreicht und in Formen stattfindet, die mit dem Begriff der Lohnarbeit und der Abgrenzung von Freizeit- und Konsumsphäre nicht mehr erfasst werden können.

Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Kinderarbeit in Deutschland längst passé sei, gibt die Studie Hinweise, dass weiterhin viele Kinder eine Arbeit ausüben. Die jungen Menschen, die an den Workshops teilnahmen, nannten „viele posi­tive Aspekte ihrer Tätigkeit: Die Arbeit macht ihnen Spaß, sie verdienen Geld, unterstützen ihre Familien, lernen dazu und machen erste Erfahrungen in der Arbeitswelt oder wachsen in einen elterlichen Betrieb hinein“ (S. 47). Es hätten sich aber auch Hinweise gefunden, „dass in Deutschland mehr Kinder unter Bedingungen arbeiten, die ihre Entwicklung, Gesundheit, Sicherheit und Bildung schädigen, als bisher bekannt“ (S. 47). Der Report vermutet, „dass Kinder und Jugendliche, die in Armut leben, mehr arbeiten und größeren Risiken ausgesetzt sind“ (S. 48). Die Gesetzgebung habe Lücken, entspreche nicht ausreichend den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention und übersehe einige Tätigkeiten und Arbeitsver­hältnisse. Der Schutz sei unzureichend. „Wichtige Akteure, wie etwa Schulen und die Jugendhilfe, sind nicht für die Belange des Kinder- und Jugendarbeitsschutzes sensibilisiert und arbeiten nicht systematisch zusammen“ (S. 47).

Der Report beklagt insbesondere, dass Kinder, die kranke oder behinderte Angehörige pflegen, kaum beachtet werden. Und dies, obwohl das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend in einem Bericht aus dem Jahr 2022 schätzt, dass immerhin 480.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland Pflegeverant­wortung tragen. „Zweifelsohne arbeiten diese Kinder und sind Risiken ausgesetzt. Ihre Belange werden bisher weder in Gesetzgebung noch in Verfahren oder Hilfsangeboten ausreichend berücksichtigt“ (S. 48). Ebenso wird warnend darauf aufmerksam gemacht, dass vor aller Augen und mit Millionen Followern erwachsene Familieninfluencer*innen im Internet nach eigenem Gutdünken ihre Kinder einsetzen, um Geld zu verdienen. Hierfür wurden in dem Report wirtschaftli­che Daten der Branche ausgewertet und alle Postings in fünf Kanälen von Familieninflu­encer*innen im Hinblick auf den Einsatz der Kinder und die platzierte Werbung gesichtet.

Es ist ein Verdienst des Reports, in Erinnerung gerufen zu haben, dass auch im wohlhabenden Deutschland weiterhin Kinder arbeiten. Dies widerspricht dem Selbstbild einer Gesellschaft, die sich dünkt, dieses Thema längst abgehakt und in die Mottenkiste der Geschichte verbannt zu haben. Doch der Report trägt wenig dazu bei, die Wahrnehmungsverzerrungen und Denkverbote aufzuklären und zu überwinden, die hierzulande mit diesem Thema noch immer verbunden sind, insbesondere wenn der Terminus „Kinderarbeit“ ins Spiel kommt.

Der Terminus „Kinderarbeit“ ist ein Kampfbegriff, der im 19. Jahrhundert entstanden ist, um den Missbrauch von Kindern durch eine ausbeuterische Ökonomie zu brandmarken. Damit wurde aber auch versucht, ein neues Verständnis von Kindheit durchzusetzen, welches Kinder von lebenswichtigen Tätigkeiten und gesellschaftlicher Teilhabe ausschließt und in ein privatisiertes Kindheitsghetto verbannt. Der Terminus versperrt den Blick auf den Umstand, dass Arbeit auch in Formen stattfinden kann, die der Entwicklung von Kindern zugutekommen und von ihnen gewünscht und bejaht werden. Er eignet sich deshalb nicht für eine unbefangene und vorurteilsfreie wissenschaftliche Analyse, wie in der englischsprachigen Fachliteratur in Bezug auf den Terminus „child labour“ seit Jahrzehnten betont wird.  

Bei der Darstellung der angewandten Methoden wird auf die Schwierigkeiten hingewiesen, das Thema bei der Planung der Gruppendiskussionen überhaupt anzusprechen. Es habe „immense Vorbehalte bei der Thematik ‚Kinderarbeit‘“ gegeben (S. 15). Es sei „mehrfach“ darauf hingewiesen worden (von wem, wird nicht gesagt), „dass eine derart negativ konnotierte Befragung nicht unterstützt werde, obwohl wir ausdrücklich betont hatten, dass sowohl positive als auch negative Aspekte in den Blick genommen werden“ (S. 15). Auch bei Eltern und teilnehmenden Kindern sei das Thema mit „Vorbehalten“ und sogar „Ängsten“ verbunden gewesen. Ein Vater habe seinem Sohn kurz vor Beginn des Workshops noch die Anweisung gegeben, in der Dis­kussion nichts zu sagen. „Manche Teilnehmende gaben zu Beginn des Workshops ein deutlich geringeres Ausmaß ihrer Tätigkeit an als am Ende – es scheint, als hätten sie etwas Zeit gebraucht, um sich zu öffnen“ (S. 15).

Die Tabuisierung des Themas wird in dem Report leider eher verfestigt als aufgebrochen. Zwar wird den jungen Leuten Gelegenheit gegeben, auch ihre Motive und die positiven Seiten ihrer Arbeit kurz darzustellen, aber in der Darstellung der Ergebnisse nehmen die Hinweise auf die schädlichen Seiten und auf die Verstöße gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz einen viel größeren Raum ein.

Dies gilt auch für die Darstellung der Situation pflegender Kinder, bei der sich der Report nicht auf eine eigene Untersuchung stützen kann. Während in den meisten englischsprachigen Studien zum Thema Young Carers, die im Bereich der Sozialen Arbeit angesiedelt sind, die Bedarfe der Kinder („children in need“) im Zentrum stehen, dominiert im deutschen Report der Hinweis auf die „Risiken“. Dadurch drohen die Kinder als Akteur*innen aus dem Blick zu geraten.

Beim Business der Familieninfluencer*innen legt schon die Wahl des Themas nahe, die negativen Seiten zu betonen; hier sind vor allem sehr junge Kinder betroffen, die im Rahmen ihrer Familie keine eigene Wahl haben. Aber es wäre ja auch denkbar gewesen (und könnte eine Anregung für eine weitere Studie sein), sich jungen Menschen zuzuwenden, die selbst im Internet auf meist kommerzielle, aber gelegentlich auch politische Weise als „Kidfluencer*innen“ agieren.

Es sei damit keineswegs bestritten, dass die Arbeit von Kindern auch in Deutschland oft von Ausbeutung, Benachteiligung und sogar Zwang gekennzeichnet ist. Dies liegt schon in dem Umstand begründet, dass die Arbeit auch von Kindern sich den Funktionsweisen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung kaum entziehen kann. Es soll lediglich darauf aufmerksam gemacht werden, dass die tatsächlichen Erfahrungen von arbeitenden Kindern sehr viel mehr Formen und Schattierungen aufweisen, als in dem „Kinderarbeitsreport“ zum Ausdruck kommt.

Ein Verdienst des Reports ist, auf Arbeitsbereiche und -formen aufmerksam zu machen, die bisher weder in den Statistiken der ILO zur Kinderarbeit noch in nationalen Gesetzen Berücksichtigung finden (weshalb es allerdings keinen Sinn ergibt, im Report auf diese Statistiken als Beleg für die weltweite Verbreitung der „Kinderarbeit“ zu verweisen). Statt nur die fehlende Berücksichtigung in Gesetzen zu beklagen, hätte die Studie Anlass sein können, das enge, ideologisch verzerrte Verständnis der Arbeit von Kindern zu entrümpeln und darauf hinzuwirken, dass bislang verborgene und geringgeschätzte Tätigkeiten von Kindern als Arbeit Anerkennung finden. Dies könnte dazu beitragen, dass auch in Deutschland – wie schon vielfach in Regionen des Globalen Südens – die arbeitenden Kinder selbst ihre Tätigkeit wertschätzen und sich für entsprechende Rechte einsetzen (z.B. für das Recht, in Würde zu arbeiten). Im Report wird allerdings nur beklagt, dass die an den Workshops beteiligten Kinder über ihre Rechte schlecht informiert waren.

Breiten Raum nimmt im Report der Verweis auf das Jugendarbeitsschutzgesetz und die UN-Kinderrechtskonvention ein. Zweifellos ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass die Arbeitsschutzgesetzgebung und die dafür zuständigen Behörden die Kinderrechte bislang nur unzureichend beachtet haben. Aber statt nur Gesetzeslücken und fehlende Sensibilität zu beklagen, wäre es notwendig, auch das Verständnis von Kinderschutz zu hinterfragen, welches der Gesetzgebung und der Behördenpraxis bislang zugrunde liegt. Solange darin die Logik des Verbots und des Ausschlusses („Verbot der Kinderarbeit“) vorherrscht, führt das Schließen von Gesetzeslücken nur dazu, Verbote auszuweiten und Kontrollen zu verschärfen. Erst wenn diese Logik aufgebrochen wird, kommen Kinderrechte zum Zug. Dazu gehört allerdings auch ein Verständnis von Kinderrechten, das nicht nur Erwachsene in die Pflicht nimmt, für das Wohl der Kinder zu sorgen, sondern auch die Kinder selbst ermutigt, sich für ihre Rechte einzusetzen, auch im Bereich der Arbeit.  

Einem solchen Verständnis der Kinderrechte kommt der Report näher, wenn er konkrete Vorschläge dafür macht, wie in den Arbeitsschutz involvierte Personen und Institutionen ihre Praxis verbessern können. Besonders zu würdigen ist, dass hierbei auch Vorschläge der Kinder und Jugendlichen aufgegriffen werden, die in den Workshops zur Sprache kamen.

Terre des hommes, zumal die deutsche Sektion, gehört zu den internationalen Kinderrechtsorganisationen, die sich bisher in verschiedenen Teilen der Welt für die Rechte arbeitender Kinder eingesetzt und ihre Organisationen unterstützt haben. Ein Beleg dafür war die Kampagne „Time to talk“, die dafür sorgen sollte, die Stimmen und Sichtweisen arbeitender Kinder in der Politik stärker zu beachten. Die im Rahmen dieser Kampagne entwickelten „Tools“ wurden auch für die Gruppendiskussionen des vorliegenden Reports zu nutzen versucht. Doch wenn die Sichtweisen und Ideen der Kinder selbst mehr Beachtung finden sollen, wäre es wünschenswert gewesen, konkrete Vorschläge zu machen, wie die Rahmenbedingungen der Arbeit von Kindern verbessert werden können. Dazu könnte auch gehören, sich für die Schaffung von Arbeitsgelegenheiten einzusetzen, wo Kinder in würdiger und von ihnen selbst bestimmter Weise neue Erfahrungen machen und Geld verdienen können. Auf „gute Beispiele“ (S. 5), die dafür hätten Anregungen vermitteln können, wird im Report leider zugunsten von allgemeinen gesetzlichen Reformvorschlägen verzichtet.

Links

tdh Kinderarbeitsreport 2024

Fachtagung über den Report

Aktualisiert: 30.06.2025