Kinder
aller Länder
Sie
wollen arbeiten, aber sie wollen nicht ausgebeutet werden. In
Berlin findet das Zweite Welttreffen der Bewegungen arbeitender
Kinder und Jugendlicher statt.
Von
Philip Meade
„Es
ist eine begrenzte Sichtweise, dass Kinder immer nur spielen und
zur Schule gehen wollen. Dies ist sogar eine Art Diskriminierung
gegen uns“, sagt der 16jährige Tambaké Tounkara
aus Guinea (Conakry). Er ist einer der 32 Delegierten, die derzeit
das zweite Welttreffen der Bewegungen arbeitender Kinder und Jugendlicher
in Berlin veranstalten. Unterstützt werden sie von den Initiativkreisen
zur Stärkung arbeitender Kinder ProNats und ItaliaNats,.
Die
in ihren Organisationen als Vertreter gewählten Teilnehmer
des Treffens sind zwischen 13 und 18 Jahre alt und kommen aus
23 Ländern, vornehmlich aus dem Süden. Sie fordern,
dass ihre Anliegen auch im Norden Gehör finden, dort wo einflussreiche
Regierungen und große internationale Organisationen ihren
Sitz haben. Auch wollen sie als internationale Bewegung, zu der
sie sich in Berlin konstituieren, anerkannt werden und bei allen
Entscheidungen, die sie betreffen, einbezogen werden.
Nach
Schätzungen der International Labour Organization (ILO) sind
weltweit mehr als 350 Millionen Kinder zwischen fünf und
17 Jahren erwerbstätig. Sie arbeiten in der Landwirtschaft,
in Haushalten, Werkstätten oder auf der Straße, zum
Teil in extrem ausbeuterischen Verhältnissen, im Bereich
der Sexarbeit, in Bergwerken oder in der Schuldknechtschaft. Um
sich gegen Ausbeutung und schlechte Arbeitsbedingungen zu wehren,
schlossen sich bereits Ende der siebziger Jahre in Lateinamerika
arbeitende Kinder zusammen. Seit den neunziger Jahren gibt es
auch in Afrika und Teilen Asiens Kinderorganisationen. Im Jahr
1996 fand das erste Welttreffen der Bewegungen arbeitender Kinder
in Kundapur, Indien statt.
Die
einzelnen Kinderbewegungen versuchen, durch Kampagnen und Aktionen
auf ihre Situation aufmerksam zu machen. In „solidarischen
Ökonomien“ zahlen sie einen Teil ihres Lohnes in eine
Gemeinschaftskasse und sichern damit zum Beispiel Mitglieder ab,
die krank werden oder eine Zeit lang nicht arbeiten können.
Als soziale Akteure organisieren sie Treffen, Sommerlager und
Ausflüge.
Salah
Uddin, der als Delegierter aus Bangladesh am Welttreffen teilnimmt,
sagt über seine Initiative Child Brigade (CB): „Wir
sind Kinder, die um unser Überleben kämpfen. Aber gleichzeitig
zeigen wir durch unsere Organisierung Solidarität mit anderen
Kindern und geben Überlebensstrategien weiter.“ Der
16jährige lebt seit seinem fünften Lebensjahr auf der
Straße. Mit sieben Jahren lernte er über andere Kinder
CB kennen, die unter anderem kostenlose medizinische Behandlung
in Krankenhäusern organisiert. Auf politischer Ebene hat
CB erreicht, dass ein Mitglied beim „National Plan of Action
for Children“ mitwirkt, einem Regierungsprogramm mit dem
Ziel, die Situation der Kinder in Bangladesh zu verbessern.
„Erwachsene
initiierten zwar die Bewegung und brachten uns wesentliche Fertigkeiten
bei – doch sie zogen sich mit der Zeit immer mehr zurück“,
erklärt Salah Uddin. Die Kinder übernahmen mindestens
70 Prozent der Arbeiten selbst, und heute gibt es keine Erwachsenen
mehr in der Kerngruppe. „Wir Kinder kennen unsere Situation
am besten. Nur wenn wir nicht weiter wissen, nehmen wir die Hilfe
der Erwachsenen in Anspruch. Außerdem geben Erwachsene Unterricht
in der Nachtschule.“ Doch nicht alle Bewegungen entwickelten
sich so. In einigen Ländern werden die Kinder von Erwachsenen
aus ihren Positionen verdrängt, so dass sie nicht mehr von
etablierten NGO zu unterscheiden sind.
Während
westliche Organisationen Kinderarbeit meist pauschal ablehnen,
fordern die Delegierten des Welttreffens eine differenzierte Sichtweise
auf Kinderarbeit. „Ja zur Arbeit – Nein Zur Ausbeutung.
Wir sind nicht das Problem, sondern Teil der Lösung!“,
lautet das Motto des Berliner Treffens. Die Teilnehmer fordern
damit genau das, womit die Mehrzahl der PolitikerInnen, VertreterInnen
von NGO und internationalen Organisationen ein Problem haben:
Mitbestimmung. Kinder wollen nicht nur mitbestimmen, sie können
es auch. Mari Cruz, die 15jährige Delegierte aus Mexiko,
sagt, sie wolle selbst entscheiden, welche Arbeiten sie als ausbeuterisch
empfinde und bei welchen sie ihre Rechte gewahrt sehe. Pauschale
Arbeitsverbote wie von der ILO oder der Uno gefordert, seien wenig
hilfreich, da die Organisationen „sich nicht in unsere Situation
hineinversetzen“ und erwerbstätige Kinder nur weiter
in die Illegalität trieben.
Die
Teilnehmer des Kongresses sprechen sich gegen die seit dem 17.
Jahrhundert in der westlichen Welt vorherrschende, bürgerliche
Sichtweise von Kindheit aus. Danach werden Kinder als defizitäre
Wesen gesehen, die beschützt und schonend auf das Erwachsenenalter
vorbereitet werden müssen. Sie sollten nicht mehr, wie zuvor
üblich, zum familiären Lebensunterhalt beitragen. Dabei
haben Erhebungen zufolge auch heute in Deutschland über die
Hälfte der unter 14jährigen Erfahrungen mit bezahlter
Arbeit.
Für
die meisten Delegierten ist es die erste Reise nach Europa, viele
haben sogar zum ersten Mal ihr Herkunftsland verlassen. Der Weg
gestaltete sich für manche schwierig. Trotz der Kooperation
der Organisatorinnen mit dem Auswärtigen Amt schickte der
Bundesgrenzschutz einen Delegierten aus Guatemala nach einem Verhör
im Frankfurter Flughafen beinahe wieder nach Hause. Delegierte
aus Senegal und Guinea-Bissau wurden beim Transit in Paris vom
französischen Grenzschutz mit Gewalt in das Büro von
Air France gebracht und ihre Rückflüge gegen ihren Willen
vordatiert. Schrammen am Unterarm erinnern die Kinder an den unangenehmen
Vorfall. Die deutsche Botschaft in Pakistan verweigerte einem
Delegierten das Visum, obwohl er einen 400 Kilometer langen Anfahrtsweg
nach Islamabad zurückgelegt hatte und eine offizielle Einladung
vorzeigen konnte. Dass Kinder eine Organisation vertreten könnten,
erschien den Behörden unglaubwürdig.
Auch
Salah Uddin hatte Probleme mit der Botschaft: „Sie fragten
nach den Reisepässen meiner Eltern! Aber wieso sollte ich
eine Beziehung aufrechterhalten zu Menschen, die ich so hasse?“
Salah wünscht sich für die Zukunft, dass „alle
über einen neuen Weg nachdenken, wie die arbeitenden Kinder
in die Gesellschaft einbezogen werden können“.
Dass
noch nicht alle das Anliegen der Kinder und Jugendlichen verstanden
haben, bewies zumindest die „Bild“-Zeitung. „Ich
war Kinder-Sklavin“ überschrieb sie ein Artikel über
die Delegierte aus Benin. Sie sei nach Berlin gekommen, „um
über ihr Leid zu sprechen“. Das Gegenteil ist der Fall:
Sandra Avoce ist hier, um Strategien zu entwickeln, wie ihre Bewegung
auch auf internationaler Ebene mitreden kann und „die Solidarität
zwischen den einzelnen Bewegungen zu festigen“.
(Philip
Meade , in: Jungle World, 28.4.2004)
>>
zurück <<
|