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Schwere Last auf schmalen Schultern

Welttreffen der Kinderarbeiter in Berlin

Von Sebastian Thomas

BERLIN Ausgesprochen kindlich wirkt sie nicht. Dabei ist Angie Díaz erst 16 Jahre alt. Ihre Antworten klingen routiniert. Ja, sie sei zum ersten Mal in Deutschland, Berlin gefalle ihr ganz gut, leider habe ihr bisher die Zeit gefehlt, sich alle Sehenswürdigkeiten anzusehen, sagt sie mit zunehmender Ungeduld. Schluß mit dem Geplänkel, sie will zur Sache kommen. Schließlich hat Angie die weite Reise aus Kolumbien nicht angetreten, um sich mit Smalltalk aufzuhalten.

Angie ist eines von dreißig arbeitenden Kindern aus Afrika, Asien und Lateinamerika, die in Berlin im Rahmen des zweiten Welttreffens der Bewegungen arbeitender Kinder und Jugendlicher auf ihr Schicksal aufmerksam machen wollen. "Meinen ersten Job hatte ich bereits mit fünf Jahren", erzählt die 16-Jährige. Damals, in Bogotá, ihrer Heimatstadt. Zuerst habe es ihr Spaß gemacht, "ich wollte einfach etwas tun". Und Kinder zu hüten sei schließlich auch gar nicht so anstrengend. Dann aber legt sich ihre Stirn in Falten: "Plötzlich gerieten die Dinge in unserer Familie in Schieflage, meine Mutter verlor ihre Arbeit." Das Geld blieb aus, der Hunger nicht. Angie und ihre sechs Geschwister brauchten etwas zu essen.

So wird aus dem einstmaligen Vergnügen plötzlich eine Notwendigkeit, aus Spaß bitterer Ernst. An den Wochenenden und an Feiertagen findet sich Angie auf der Straße wieder und verdient sich ihren Lebensunterhalt damit, in Rinnsteinen und Mülltonnen nach Wiederverwertbarem zu suchen. Nach weggeworfenen Glasflaschen, zerknautschtem Papier, alten Pappkartons. Brauchbar ist, was sie abends bei einem Händler gegen Bares versetzen kann. Und unter der Woche, das kommt hinzu, drückt sie die Schulbank.

Angie teilt dieses Los mit weltweit mehr als 350 Millionen anderen Kindern. Sie alle sichern sich durch ihre Arbeitskraft ihr eigenes Überleben und das ihrer Familien. Daß sich die Lebensumstände dieser Kinder verbessern, dafür kämpft Angie jetzt in Berlin. Zwei Wochen lang, vom 18. April bis zum 2. Mai, tauscht sie im Freizeit- und Erholungszentrum (FEZ) Wuhlheide mit Schicksalsgenossen aus aller Herren Länder Erfahrungen aus. "Auch wenn wir unterschiedliche Sprachen sprechen", sagt Angie, "so haben wir doch ein gemeinsames Ziel: Den arbeitenden Kindern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen." Ein generelles Verbot oder eine weltweite Ächtung der Kinderarbeit hält sie aber für den falschen Ansatz. Klar sei, daß man sich gegen Ausbeutung und Rechtlosigkeit mit aller Kraft zur Wehr setzen müsse. Auf der anderen Seite, betont sie, sind oft ganze Familien von den spärlichen Einkünften ihrer arbeitenden Kinder abhängig. "Ich, zum Beispiel, könnte ohne die Einkünfte aus meiner Arbeit nicht die Schule bezahlen."

Arbeiten, das heißt für Angie heute nicht mehr, auf den Straßen Bogotás nach Glasflaschen zu stöbern. Mittlerweile hat sie sich zu einer erfolgreichen Kleinunternehmerin gemausert. "Zusammen mit zehn Freundinnen habe ich einen kleinen Betrieb gegründet", erzählt sie mit leuchtenden Augen, "wir stellen Visitenkarten her". Und nebenbei, verrät sie, lese sie gerne. Am liebsten die Romane von Isabel Allende und Gabriel García Márquez - "unserem Nobelpreisträger". Auch "Schuld und Sühne" habe ihr gut gefallen. Und als ihr der Name des russischen Verfassers des Buches nicht auf Anhieb einfällt, beginnt sie zu lächeln. Schüchtern und ein wenig verlegen - eben kindlich.

 

(Sebastian Thomas, in: Märkische Allgemeine, 30.4.2004)

 

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