Offener Brief erfährt Zuspruch
Offener Brief fordert realistischere, evidenzbasierte und partizipative Ansätze zur Besserung der Lage arbeitender Kinder
Über 100 Akademiker*innen und Forscher*innen, zusammen mit vielen erfahrenen Praktiker*innen von Nichtriegierungsorganisationen sowie arbeitende Kinder selbst haben vor wenigen Tagen einen offenen Brief auf der Plattform openDemocracy veröffentlicht. In ihm fordern sie realistischere, evidenzbasierte und partizipative Ansätze zur Besserung der Lage arbeitender Kinder und kritisieren den von der UN und der ILO ausgerufenen Ziel, Kinderarbeit bis 2025 ausrotten zu wollen. Der offene Brief erfuhr weltweit Zuspruch und wurde von vielen Nachrichtenagenturen und Medien aufgegriffen. Wir geben den Brief in deutscher Übersetzung wieder.
Offener Brief: Kurswechsel im Internationalen Jahr zur Abschaffung der Kinderarbeit
Kinderarbeit wird 2021 nicht enden, und der Versuch, sie abzuschaffen, wird arbeitende Kinder nur weiter gefährden. Über 100 Expert*innen fordern das internationale System auf, sich stattdessen auf ihr Wohlbefinden zu konzentrieren. (27. Januar 2021)
Angesichts der aktuellen Pandemie und des offiziellen Beginns des Internationalen Jahres zur Abschaffung der Kinderarbeit 2021 der Vereinten Nationen am 21. Januar kommt die folgende öffentliche Erklärung von einer großen Anzahl prominenter Professor*innen und Forscher*innen, unterstützt von vielen erfahrenen Praktiker*innen von Entwicklungs-NGOs und -agenturen und arbeitenden Kindern selbst. Im Mittelpunkt der Erklärung steht die dringende Forderung nach realistischeren und evidenzbasierten Ansätzen gegen Kinderarbeit, die im Dialog mit der internationalen Forschungsgemeinschaft und arbeitenden Kindern und ihren Familien entwickelt werden sollen.
Es ist schmerzlich deutlich geworden, dass die COVID-19-Pandemie nicht alle gleichermaßen betrifft. Kinder sind besonders anfällig für die physischen, psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen, die die Pandemie verursacht hat. Abgesehen von der Unterbrechung der Ausbildung und dem fehlenden Internetzugang können schwere psychische Probleme durch die lange Isolation während des Aufwachsens entstehen. Darüber hinaus hat uns UNICEF gewarnt, dass COVID-19 die durch Konflikte, Katastrophen und den Klimawandel verursachten Ernährungskrisen zu einer drohenden Katastrophe verschlimmert hat, die Millionen von Kindern in unmittelbarer Zukunft bedroht.
Es ist unwahrscheinlich, dass der Wiederaufbau nach der COVID-Pandemie die Kinder in den Zustand vor der Pandemie zurückversetzt: Die gestörte und zunehmend ungleiche Wirtschaft, der Klimawandel und die zunehmende Land- und Wasserknappheit werden das Leben der Kinder wahrscheinlich immer prekärer machen. Viele Familien sind gezwungen, ihre Kinder in die Bemühungen einzubeziehen, das Lebensnotwendige zu beschaffen, was zu umfangreicher und sogar gefährlicher Arbeit führen kann, die manchmal eine Schulbildung unmöglich macht. Es besteht daher ein dringender Bedarf an langfristigen unterstützenden Maßnahmen, um das Leben und die Chancen dieser Kinder zu verbessern.
Wie bereits erwähnt, wurde das Jahr 2021 zum Internationalen Jahr zur Abschaffung der Kinderarbeit erklärt, um das Ziel 8.7 der Ziele für Nachhaltige Entwicklung (SDGs) zu unterstützen, das besagt, dass Kinderarbeit in all ihren Formen bis 2025 beseitigt werden soll. Nach den eigenen globalen Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zur Kinderarbeit war dieses Ziel schon in einer Welt vor COVID völlig unrealistisch. Derzeit besteht die große Gefahr, dass die prekäre Situation arbeitender Kinder durch gut gemeinte, aber unwirksame und potenziell kontraproduktive Prä-COVID-19-Normen und -Praktiken weiter verschlimmert wird. Sie beruhen in erster Linie auf ideologischen und emotionalen Überzeugungen statt auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und den eigenen Erfahrungen arbeitender Kinder.
Die durch die COVID-19-Pandemie verursachte Störung war für viele Menschen eine Lernerfahrung, die ein Überdenken einiger der Werte, die unserer Lebensweise zugrunde liegen, erforderte. Wir haben gelernt, den Wert der schlecht bezahlten systemwichtigen Arbeiter*innen in einer Vielzahl von Diensten zu schätzen, auch wenn sich dies wirtschaftlich noch nicht niederschlägt. Wir haben gesehen, wie junge Menschen Verantwortung übernommen haben, um denjenigen zu helfen, die verletzlich und bedürftig sind, weil sie wissen, dass es unzureichend ist, sich auf offizielle Institutionen zu verlassen, um Unterstützung zu erhalten. Menschen haben Lebensmittelbanken und Suppenküchen für diejenigen eingerichtet, deren Ernährungssicherheit erschüttert ist. Kleine, lokale, informelle Lerngruppen sind für Kinder entstanden, die keine Schulbildung haben und keine Ressourcen für Online-Kurse. Kurz gesagt, während die Menschen physisch auseinander getrieben wurden, sind die Werte der sozialen Verbundenheit und Verantwortung in den Vordergrund getreten. Alte Lebensweisen funktionieren nicht mehr und werden wohl auch in Zukunft nicht funktionieren, selbst wenn die Pandemie zu Ende ist, da neue Herausforderungen durch den Klimawandel und andere Faktoren die Lebensbedingungen für viele Kinder der Welt noch bedrohlicher machen werden.
Im Lichte dieser wachsenden Wertschätzung für kooperative gegenseitige Verantwortung ist es nun an der Zeit, langfristige Strategien zur Beseitigung schädlicher Kinderarbeit in einer Weise zu erwägen, die das Leben der betroffenen Kinder effektiv verbessert. Sie von der Arbeit zu entfernen, ist keine Hilfe, wenn sie dadurch noch tiefer in den Hunger und das zerrüttete Leben hineingetrieben werden, das mit der Arbeit gemildert werden sollte.
Um hilfreich zu sein, müssen Interventionen an Situationen angepasst werden, die nicht nur lokal variieren, sondern auch je nach dem spezifischen Status und den Umständen der betroffenen Kinder – Jungen, Mädchen, behinderte Kinder, Kinder in Minderheitengruppen und Kinder mit unterschiedlichem sozioökonomischem Status haben alle unterschiedliche Bedürfnisse und unterschiedliche Verletzlichkeiten. Interventionen sollten das Wohlbefinden ganzheitlich betrachten: Sie müssen sich um das gesamte Wohlbefinden und die Entwicklung der Kinder kümmern – körperlich, geistig, sozial und spirituell – wie in der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK; Artikel 17, 23, 27, 32) festgelegt. Anschließend müssen die Kinderarbeit und die vorgenommenen Interventionen nach den tatsächlichen Auswirkungen – sowohl förderlich als auch schädlich – auf das Wohlbefinden der Kinder bewertet werden.
In vielen Gesellschaften werden Kinder dazu erzogen, in ihrer Verantwortung und ihrem Beitrag für ihre Familien und Gesellschaften zu wachsen, während sie Kompetenzen erwerben. Die Teilnahme an der Arbeit trägt oft zu dieser Bildung bei – wobei „Bildung“ so verstanden wird, dass sie über die Schulbildung hinausgeht, die in der Tat gelegentlich gezeigt hat, dass sie solches kulturelles Lernen beeinträchtigt. Auch außerhalb der COVID-19-Krise kann angemessene Arbeit Vorteile für Kinder haben, die denen, die auf andere Weise benachteiligt sind, nicht vorenthalten werden sollten: vorteilhafte Arbeit sollte gefördert statt verboten werden.
Um sicherzustellen, dass Interventionen zur Beendigung von Kinderarbeit eine ganzheitliche Verbesserung erreichen, können wir nicht länger blindlings an dem gut gemeinten, aber unrealistischen Ziel festhalten, Kinderarbeit bis 2025 zu beseitigen. Stattdessen müssen wir berücksichtigen, was arbeitende Kinder und ihre Familien bereits tun, um ihre Not zu lindern und ihr Leben zu verbessern, und überlegen, wie sowohl als Reaktion auf die COVID-Krisen als auch für die unsichere Zukunft darauf aufgebaut werden kann.
Wir fordern daher die Vereinten Nationen, UNICEF und den UN-Kinderrechte-Ausschuss als primäre Überwacher der UN-Kinderrechtskonvention zusammen mit der ILO auf, einen inklusiveren Dialog zwischen Regierungen, UN-Organisationen, Gebern, NGOs, Forscher*innen und arbeitenden Kindern selbst zu ermöglichen.
[Eine aktuelle Liste der Unterzeichner*innen befindet sich auf der Website openDemocracy.]
Links
Der offene Brief auf der Plattform openDemocracy
Weitere internationale Quellen, die sich auf den offenen Brief beziehen:
Reuters (UK)
National Post (Canada)
SABC News (South Africa)
Hindustan Times (India)
Devdiscourse - Discourse on Development (India)
The African Mirror (South Africa)
Cape Times (South Africa)
Poverty Unpacked (UK)
Deutsche Welle - India (Germany/India)
Kenya News (Kenya)
Terra (Brazil)
Sight Magazine (Australia)
Aktualisiert: 31.01.2021