Kinderarbeit in Deutschland

Auch in Deutschland arbeiten viele Kinder oder würden gerne mit einer Arbeit Geld verdienen und neue Erfahrungen machen. Doch die Arbeit von Kindern wird kaum wahrgenommen oder nur als soziales Problem eingestuft und in ihren vielfältigen Formen und Bedeutungen unterschätzt. Es mangelt an Studien, die den Sichtweisen, Erfahrungen und Wünschen der Kinder Aufmerksamkeit widmen.

Werden arbeitende Kinder wahrgenommen?

Kinder arbeiten in unserer Gesellschaft, und zwar an vielen Orten und Zeiten: bezahlt, häufig aber auch unbezahlt; verboten oder in besonderen Fällen erlaubt; weil es von ihnen erwartet wird oder aus eigener Initiative und in eigener Regie. Manchmal ist ihre Arbeit sichtbar, meist aber unsichtbar und unbeachtet. Neben der Schule leisten diese Kinder so einen großen Beitrag für sich, für andere, für die Familie, für die Gesellschaft. Und nicht nur das: sie wollen arbeiten, nehmen ihre Arbeit sehr ernst und arbeiten gerne, wenn die Bedingungen „stimmen“.

Die Arbeit von Kindern wird in Deutschland (wie in Europa überhaupt) jedoch kaum wahrgenommen. Sie gilt als weitgehend abgeschafft. Das Preußische Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken von 1839, das 1904 in Kraft getretene Kinderschutzgesetz und spätestens das ILO-Übereinkommen 138 aus dem Jahr 1973 habe den Kindern ihr gesellschaftlicher Platz zugewiesen: der Institution Schule. Wenn die Arbeit von Kindern heutzutage thematisiert wird, dann zumeist als Abweichung, Ausbeutung oder als Indiz für fortschreitende Armut.

Untersuchungen, die in einigen Bundesländern in den letzten 20 Jahren im Auftrag von Ministerien gemacht wurden, stützen dies. Die Absicht dieser Studien bestand meist darin, den rechtlichen Status oder die „Ursachen und Wirkungen der Kinderarbeit“ zu ermitteln. Es stand die Frage im Vordergrund, inwieweit mit der Arbeit der Kinder bestehende Gesetze verletzt werden oder inwieweit die Kinder durch die Arbeit Schaden erleiden. Es wurde somit versucht, das Ausmaß verbotener Kinderarbeit zu erfassen und geeignete Maßnahmen zu konzipieren, um diese einzudämmen. In der Regel wurde in diesen Studien von einem Verständnis von Kinderarbeit ausgegangen, dass diese ausschließlich als rechtliches, soziales oder ökonomisches Problem wahrnimmt, aber nicht als offenes und durch sehr verschiedene Formen und Bedingungen geprägtes Feld, das für die Kinder vielfältige Erfahrungen mit sich bringt.

„Kinderarbeit“ ist ein problematischer Begriff

Ein oft unterschätztes Problem steckt in den verwendeten Begriffen. Begriffe sind sowohl in der Alltagskommunikation als auch in der wissenschaftlichen Forschung unentbehrlich, da sie uns helfen, die soziale Realität zu ordnen und zu begreifen. Aber da es sich um Abstraktionen handelt, besteht immer eine Spannung zwischen der angenommenen sozialen Realität und dem, was wir mit unseren Begriffen ausdrücken. Beim Begriff der Kinderarbeit ist dies besonders offensichtlich. Er löst in der Regel negative Assoziationen aus und prägt damit ein gutes Stück bereits die Wahrnehmung der sozialen Realität, die wir mit diesem Begriff bezeichnen und begreifen wollen. Wir können dieses Problem nicht auslöschen, aber, wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir uns um möglichst offene, wenig eingrenzende und mit Wertungen aufgeladene Begriffe bemühen und mit den vorhandenen Begriffen (selbst-) kritischer umgehen.

Arbeit gilt in der Soziologie als Schlüsselkategorie, über die in heutigen Gesellschaften Status und gesellschaftliche Stellung, also Macht und Herrschaftspositionen verteilt werden. Dies gilt in besonderer Weise für entlohnte Arbeit. Private Alltagsarbeit, also Haus- Erziehungs- und Sorgearbeit als nichtentlohnte, gleichwohl unentbehrliche gesellschaftliche Arbeit wird deutlich geringer geschätzt und verweist die Ausübenden auf einen nicht eindeutig bestimmbaren Sozialstatus – der stattdessen in der Regel durch die Erwerbsarbeit des (Haupt‑)Verdienenden in der Familie bestimmt wird. Ebenfalls gilt dies für jegliche andere Arbeit, die nicht in entlohnten „Normalarbeitsverhältnissen“ geleistet wird (z. B. Ehrenämter oder Praktika).

Ebenso wie für Frauen* liegt ein bisher kaum beachtetes Arbeitsfeld der Kinder im Bereich der Hausarbeit. Während sich die feministische Geschlechterforschung dieses Themas unter dem Stichwort „geschlechtsdifferente Arbeitsteilung“ inzwischen ausgiebig angenommen hat, ist die „generationale Arbeitsteilung“ bislang von der Forschung erst wenig thematisiert worden. Die Arbeit, die Kinder in der Familie leisten, wird häufig weder von Erwachsenen noch von Kindern als Arbeit angesehen. Aber auch andere, vergütete Tätigkeiten werden häufig nicht als Arbeit anerkannt, wenn sie von Kindern ausgeübt werden, weil sie in der Regel keinen lebensnotwendigen Beitrag zum Familieneinkommen darstellen.

Auch in Deutschland arbeiten viele Kinder

Die Ergebnisse der oben genannten Studien zeigen, dass „Kinderarbeit“ in Deutschland nicht nur existiert, sondern sogar als Massenphänomen bezeichnet werden kann. So gaben bis zu 50% der 12-16jährigen Jugendlichen an, neben der Schule bereits gearbeitet zu haben. Sie haben Zeitungen ausgetragen, auf Kinder oder Tiere aufgepasst, haben Rasen gemäht oder waren für Bekannte einkaufen. Diese und andere Tätigkeiten werden meist nicht als Arbeit bezeichnet und aufgrund dessen von der Gesellschaft akzeptiert. Dennoch gilt in Deutschland ein strenges Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG), welches Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren – bis auf sehr wenige Ausnahmen – verbietet, einer Arbeit nachzugehen.

Neben der Zahl der Kinder, die bereits arbeiten, weisen die Studienergebnisse darauf hin, dass ein hohes Interesse bei Kindern und Jugendlichen besteht, eine Arbeit aufzunehmen. Bei einer Befragung im Bundesland Thüringen gaben beispielsweise 90% der 14-15jährigen an, gerne arbeiten zu wollen. Nordrhein-Westfalen meldete eine „Kinderarbeitsquote“ von 42 Prozent, Hessen von fast 52 Prozent.

Somit ist festzuhalten, dass auch in Deutschland Kinder und Jugendliche arbeiten bzw. arbeiten wollen. Es macht ihnen Spaß Verantwortung zu übernehmen oder für ihr Handeln Anerkennung zu bekommen, die nicht immer nur monetär sein muss. Sie wird nicht in Konkurrenz zur Schule gesehen, sondern als zusätzliche Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen und den eigenen Handlungsraum zu erweitern. Für Kinder in Deutschland ist somit Arbeit ein möglicher, und dann auch wichtiger Bestandteil ihres Lebens, aber anders als Kinder im Süden identifizieren sie sich nicht darüber. Organisationen oder Bewegungen, in denen Kinder sich zusammenschließen, um für die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Arbeit zu kämpfen, existieren unseres Wissens bisher weder in Deutschland noch in anderen Ländern Europas.

Aktualisiert: 14.12.2020