Schutz- und Beteiligungsgesetz für arbeitende Kinder in Bolivien

In Bolivien haben arbeitende Kinder, die in einer eigenen Gewerkschaft (UNATSBO) organisiert sind, jahrelang für ein Gesetz gekämpft, dass ihnen Schutz vor Ausbeutung und Partizipation in den sie betreffenden Angelegenheiten ermöglicht. Ein solches Gesetz wurde seit 2011 unter Beteiligung arbeitender Kinder entwickelt, vom Parlament beschlossen und trat am 4. August 2014 in Kraft. Es interpretierte die Kinderrechte im Geiste der Traditionen indigener Gemeinschaften und unter Beachtung der sozialen und kulturellen Realität des Landes. Gegen den Willen und ohne Konsultation der arbeitenden Kinder wurde die progressiven Teile des Gesetzes allerdings Ende 2018 wieder außer Kraft gesetzt. Obwohl damit die Erwartungen der Kinder enttäuscht wurden, bleibt das Gesetz und seine Geschichte ein Lehrstück für die weiteren Kämpfe um das Recht der Kinder, in Würde zu arbeiten.

Die Errungenschaften des Gesetzes

In dem Gesetz war betont worden, dass alle arbeitenden Kinder das Recht haben, durch den Staat auf allen seinen Ebenen, durch die Familie und durch die Gesellschaft vor wirtschaftlicher Ausbeutung und vor jeglicher Arbeit, die Gefahren mit sich bringt und insbesondere ihr Recht auf Bildung, ihre Gesundheit, ihre Würde und ihre integrale Entwicklung gefährdet, geschützt zu werden. Dies schloss auch das Recht der Kinder ein, angehört zu werden und sich an allen Entscheidungen, die sie betreffen, zu beteiligen. Der Staat verpflichtete sich, auf allen politischen Ebenen Vorsorge- und Schutzprogramme für arbeitende Kinder unter 14 Jahren durchzuführen und insbesondere die Familien zu unterstützen, die in extremer Armut leben. Damit sollte nicht nur ein umfassender Schutz der arbeitenden Kinder gewährleistet, sondern ihnen auch erleichtert werden, sich gegen die Verletzung ihrer Rechte zu wehren. Durch die Bekämpfung der Armut sollte zumindest ein Teil der Gründe beseitigt werden, die Familien nötigen, auf die Arbeitskraft ihrer Kinder zurückzugreifen, oder die Kinder nötigen, zum Lebensunterhalt mit jeglicher Arbeit vorlieb zu nehmen, die sich ihnen bietet. Auf diese Weise sollte den strukturellen Ursachen der wirtschaftlichen Ausbeutung der Kinder entgegengewirkt werden.

Internationales Aufsehen hatte erregt, dass in dem neuen Gesetz erstmals kein generelles Verbot der Erwerbstätigkeit von Kindern (also von „Kinderarbeit“) unter 14 Jahren vorgesehen war, sondern eine Regelung gewählt wurde, die nach Art der Arbeit und Alter der Kinder differenziert. Kindern im Alter von 10 bis 14 Jahren wurde „in Ausnahmefällen“ und unter besonderen Voraussetzungen die Arbeit gestattet und ihnen wurden entsprechende Arbeitsrechte und Schutz vor Gewalt und Ausbeutung garantiert.

Das Gesetz differenzierte zwischen verschiedenen Formen von Arbeit. Arbeit, die die Kinder in der familiären und kommunitären Gemeinschaft ausüben, wurde ungeachtet des Alters als legitim anerkannt. Darunter wurden häusliche und landwirtschaftliche Tätigkeiten verstanden, die im Rahmen der familiären Subsistenzwirtschaft oder als kollektive Arbeitsvorhaben der Gemeinde ausgeübt werden. Diesen Arbeiten wurde im Gesetz (ähnlich wie in der Verfassung) ausdrücklich eine positive Funktion für die Sozialisation der Kinder und ihre Heranbildung zu aktiven und verantwortlichen Bürger*innen beigemessen. Es wurde allerdings in dem Gesetz auch betont, dass sie in keiner Weise die Rechte der Kinder verletzen, sie ihrer Würde berauben sowie in ihrer integralen Entwicklung und Schulbildung behindern dürfen.

Von dieser Art von Arbeit wurden im Gesetz Arbeiten unterschieden, die mit der städtischen Geldwirtschaft oder der kapitalistischen Wirtschaftsweise entstanden sind und in der Regel zum Erwerb von Einkommen verrichtet werden. Dazu wurden zum einen Arbeiten gezählt, die unabhängig bzw. „auf eigene Rechnung“ ausgeübt werden (d.h. als Kleinunternehmer*innen bzw. selbständige Tätigkeit im informellen Sektor), zum anderen Arbeiten, die in Abhängigkeit von einer*einem „Arbeitgeber*in“ stattfinden und in der Regel mit Geld entlohnt werden (Arbeiten „auf fremde Rechnung“). Diese Formen von Arbeit blieben laut Gesetz zwar Kindern unter 14 Jahren zwar prinzipiell untersagt, aber ab bestimmten Altersgrenzen waren „Ausnahmen“ vorgesehen. Demnach konnten Kinder ab dem 10. Lebensjahr Arbeiten auf eigene Rechnung und ab dem 12. Lebensjahr abhängige Arbeiten ausüben unter der Voraussetzung, dass bestimmte Bedingungen erfüllt werden und die jeweilige Arbeit vom zuständigen örtlichen Kinderrechtsbüro (Defensoría de la Niñez y Adolescencia) genehmigt wird. Die Genehmigung konnte nur (sollte aber auch) erteilt werden, wenn die Arbeit nicht das Recht auf Bildung beeinträchtigt und nicht die Gesundheit, Würde und integrale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen gefährdet. Für alle Arbeiten galt als grundlegend, dass sie dem freien Willen der Kinder entsprechen und ihre ausdrückliche Zustimmung finden müssen. Zudem sollten alle arbeitenden Kinder in einem Register beim Arbeitsministerium erfasst werden und damit besonderer Aufsicht unterliegen.

Gefährliche Arbeiten, die Kindern schaden können, wurden in einer Liste aufgeführt, die alle fünf Jahre aktualisiert werden sollte. Für sie durfte unter keinen Umständen eine Erlaubnis erteilt werden. Arbeiten in fremden Haushalten durften erst ab dem 14. Lebensjahr ausgeübt werden und unterlagen ebenfalls besonderen Bedingungen.

Für Arbeiten, die in Abhängigkeit von einem Arbeitgeber ausgeübt werden, musste immer eine Erlaubnis der Mutter, des Vaters oder eines anderen Sorgeberechtigten vorliegen. Bevor die Arbeit genehmigt wird, musste in jedem Fall eine medizinische Untersuchung vorgenommen werden, die die Gesundheit und die physische und mentale Fähigkeit für die auszuübende Arbeit bestätigt. Die Arbeitszeit durfte 6 Stunden täglich und 30 Stunden wöchentlich nicht überschreiten. Allen Kindern wurde das Recht auf Sozialversicherung zugesichert, zu der die*der Arbeitgeber*in die gesetzlich vorgeschriebenen Anteile des Lohns abführen mussten.

Für die Arbeiten auf eigene Rechnung wurden die Eltern oder andere Sorgeberechtigte verpflichtet, den Schulbesuch zu ermöglichen und für Arbeitsbedingungen zu sorgen, die es dem Kind gestatten, sich zu erholen und an kulturellen und anderen Freizeitaktivitäten teilzunehmen. Die Arbeiten durften nur bis längstens 22 Uhr ausgeübt werden. Nähere Angaben zur Arbeitszeit wurden nicht gemacht. In keinem Fall durften Arbeiten ausgeführt werden, die das Leben, die Gesundheit, die Integrität oder das Ansehen des Kindes gefährden.

Mit diesen Regelungen wurde zwar die wirtschaftliche Ausbeutung von Kindern nicht aus der Welt geschafft – das ist mit einem Gesetz allein ebenso wenig möglich wie mit internationalen Konventionen –, aber es wurde ein rechtlicher Rahmen vorgegeben, der arbeitenden Kindern garantierte, dass ihre Rechte beachtet werden und dass sie sich gegen deren Verletzung wehren können. Bei allen Schwierigkeiten, die bei der praktischen Umsetzung zu erwarten waren, ist anzuerkennen, dass hier ein Versuch unternommen wurde, die Lage der arbeitenden Kinder und insbesondere ihren Schutz zu verbessern. Bei der Arbeit, die Kindern nach diesem Gesetz hätte gestattet werden können, hätte es sich nicht mehr um Arbeit gehandelt, die Kindern schadet. Es ist als unzutreffend, wenn gelegentlich behauptet wurde, das Gesetz habe „die Kinderarbeit legalisiert“.

In einem eigenen Gesetzentwurf aus dem Jahr 2010 hatte UNATSBO, die Organisation der arbeitenden Kinder und Jugendlichen Boliviens, erklärt: „Die systematische Leugnung der Arbeit von Kindern scheint vor allem mit den Interessen von Erwachsenen zu tun zu haben, die ein einziges Modell von Kindheit globalisieren wollen. So scheint das arbeitende, indigene, kämpfende, rebellierende und organisierte Kind, das letztlich Teil der Identität ganzer Völker ist, als Bedrohung für diejenigen gesehen zu werden, die am Verschwinden dieser Diversitäten interessiert sind“.

Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Gesetzes

Das Gesetz hat kontroverse internationale Debatten ausgelöst. Insbesondere die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat das Gesetz als unvereinbar mit den ILO-Konventionen zu Kinderarbeit („child labour“) bezeichnet und gefordert, dass die Teile, die sich auf die Arbeit der Kinder beziehen, geändert werden. Nachdem die bolivianische Regierung von Evo Morales drei Jahre dieser Forderung widerstanden hatte, gab sie im Dezember 2018 dem Druck der ILO, der noch von der Regierung der USA verstärkt worden war, nach und änderte die umstrittenen Teile des Gesetzes zum Nachteil der arbeitenden Kinder. Dies zerstörte viele Hoffnungen, die mit dem Gesetz verbunden worden waren.

Noch als das Gesetz in Kraft war, zeigten sich einige Probleme bei der Autorisierung der Arbeit von Kindern und Jugendlichen. In den drei Jahren seit Inkrafttreten des Gesetzes wurden nur wenige Arbeitsgenehmigungen erteilt. Was sind die Gründe? Auf der einen Seite war vermutlich der bürokratische Aufwand zu hoch, die Ausstattung der Kinderrechtsbüros und der örtlichen Stellen des Arbeitsministeriums, die für die Genehmigungen zuständig sind, war unzureichend und das Personal wechselte sehr häufig (mitunter aus politischen Gründen). Genehmigungen mussten für jedes Kind einzeln erteilt werden und erforderten eine genaue Untersuchung seiner Situation. Viele Formulare mussten beachtet und von verschiedenen Behörden und Personen ausgefüllt werden, von den Kindern und ihren Eltern, von den Gesundheitsämtern, den Schulen und schließlich im Falle abhängiger Arbeit auch von den Unternehmen.

Es scheint, dass einige Unternehmen nicht gewillt waren, unter den vom Gesetz vorgeschriebenen Bedingungen Kinder und Jugendliche zu beschäftigen. Vor allem wollten sie „keine Schwierigkeiten“ haben. Erstens fühlten sie sich von den bürokratischen Prozeduren belastet. Zweitens scheinen sie das Interesse an der Beschäftigung der Kinder und Jugendlichen verloren zu haben, da sie ihnen nun dasselbe Gehalt wie erwachsenen Beschäftigten zahlen und überdies den Jugendlichen ab 15 Jahren zwei Stunden täglich während der Arbeitszeit für das Studium gewähren mussten. Hier hätte der Staat aktiv eingreifen müssen mit dem Angebot, den Betrieben Zuschüsse zu gewähren, wenn sie Kinder und Jugendliche (unter 18 Jahren) einstellen. Dies hätte vorausgesetzt, dass der Staat tatsächlich ein Interesse an der legalen Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen unter würdigen Bedingungen gehabt hätte. Und dass er über die dafür nötigen Ressourcen verfügt hätte und sie bereitzustellen gewillt gewesen wäre.

Nicht minder wichtig wäre gewesen, Arbeits- und Ausbildungsalternativen für Kinder und Jugendliche zu schaffen, die den Kriterien des Kinder- und Jugendgesetzes für „legale“ Arbeit entsprechen und ihnen über den Schulbesuch hinaus bessere Entwicklungsmöglichkeiten bieten, bzw. bestehende Arbeitssituationen im Sinne der Erfüllung der Kinderrechte umzugestalten. Die im Gesetz erfolgte Anwendung der Arbeitsnormen auf Kinder und Jugendliche (z.B. Mindestlohn, Arbeitszeiten) und die Schutzgarantien waren ein erster Schritt in diese Richtung. Das Gesetz enthielt zwar das Versprechen und forderte dazu heraus, den Menschen, die in Bolivien noch immer in großer Armut leben müssen, ein würdiges und befriedigendes Leben zu ermöglichen, aber die arbeitenden Kinder hätten hierbei auch als aktive Subjekte einbezogen und ihre Organisationen als „Mittler“ anerkannt werden müssen.

Das Gesetz war ein politischer Kompromiss, der gegen viele Widerstände – auch in der Regierung, bei Abgeordneten und in der Öffentlichkeit – erkämpft werden musste. Ohne den beharrlichen Druck und die Überzeugungsarbeit der Kinder und Jugendlichen von UNATSBO wäre er vermutlich nicht zustande gekommen. Aus Stellungnahmen von UNATSBO geht hervor, dass sich die Kinder erstmals als arbeitende Kinder respektiert sahen und sich von dem Gesetz einen besseren Schutz bei der Arbeit, ein Ende der Diskriminierung und eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erhofften.

Die besondere Bedeutung des Gesetzes – auch für andere Länder – lag darin, dass es die arbeitenden Kinder nicht – wie zuvor üblich – nur als „Sozialfälle“ oder Objekte von Schutzmaßnahmen betrachtete, sondern als soziale Subjekte anerkannte, die zu den notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen aktiv beitragen können. Dies hätte freilich nur in dem Maße gelingen können, wie sich das Land auch aus der internationalen wirtschaftlichen Abhängigkeit befreit sowie Wirtschaftsformen und Arbeitsverhältnisse hervorbringt, die den in der Verfassung verankerten Prinzipien des „Guten Lebens“ entsprechen.

Enttäuschte Erwartungen

Die Erwartungen und Hoffnungen, die mit dem Gesetz verbunden waren, sind letztlich enttäuscht worden. Ohne öffentliche Diskussion und ohne die arbeitenden Kinder und all die Organisationen und lokalen Regierungsstellen, die sich für die Umsetzung des Gesetzes engagiert hatten, zu konsultieren, wurde das Gesetz im Dezember 2018 durch das Parlament in entscheidender Weise gemäß den Vorgaben der ILO geändert. Alle gesetzlichen Schutzmechanismen für die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren wurden ersatzlos gestrichen, was einem allgemeinen Verbot gleichkommt. Die Regelungen des Gesetzes und arbeitsrechtlichen Garantien beschränken sich nun vollständig auf Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren. Für die jüngeren Kinder bleibt am Ende des Gesetzes nur die Ankündigung übrig, die Schulpflicht und mittels Kontrollinstanzen das Arbeitsverbot durchzusetzen und sich auf mehr Sensibilität der Behörden für ihren Schutz zu verlassen.

Das bisherige Gesetz war nicht frei von Mängeln und die Zentralregierung hatte sich nur verhalten für seine Umsetzung eingesetzt. Notwendige Mittel für die Umsetzung der Schutzmechanismen wurden nie zur Verfügung gestellt. Um Kindern und Jugendlichen eine Arbeit zu ermöglichen, die ihre Rechte wahrt und ihren Schutz und ihre Menschenwürde gewährleistet, waren in dem Gesetz bürokratische Prozeduren vorgeschrieben, die in der Praxis nur schwer zu erfüllen waren. Und es fehlte den Kinderrechtsbüros die Ausstattung und Zeit, um sich um den wirklichen Schutz der Kinder zu kümmern.

Trotz alldem hatten zahlreiche Organisationen und Personen in einzelnen Provinzen daran gearbeitet, die bürokratischen Hürden zu überwinden, und sich gemeinsam mit betroffenen Kindern und Jugendlichen für die Umsetzung des Gesetzes engagiert. Sie waren und sind davon überzeugt, dass das Gesetz besser war als alles, was zuvor an gesetzlichen Regelungen existierte. Es ist befremdlich, dass die vielfältigen Erfahrungen, die in den vergangenen vier Jahren gemacht worden waren, weder ausgewertet noch bei der erneuten Beschlussfassung berücksichtigt wurden. Und es widerspricht dem Geist der UN-Kinderrechtskonvention, der bolivianischen Verfassung und dem Kinder- und Jugendgesetz selbst, dass die arbeitenden Kinder gar nicht erst angehört wurden. UNATSBO, die Organisation der arbeitenden Kinder Bolivien, hatte vergeblich gefordert, „unsere Stimmen zu hören, da wir dazu ein Recht haben. Niemand kann ohne unsere Mitwirkung Gesetze ändern, die unsere Interessen berühren“.

Weiterführende Seiten

ProNATs berichtete 2011 über den Entstehungsprozess des Gesetzes

ProNATs berichtete 2011 über erste Unterstützung vom Präsidenten 

ProNATs berichtete 2013 über Proteste von UNATSBO

ProNATs berichtete 2014 über ein Gespräch zwischen UNATSBO und dem Senat

ProNATs berichtete 2014 über die Verabschiedung des neuen Gesetzes

ProNATs berichtete 2015 über kontroverse Diskussionen im EU-Parlament

ProNATs berichtete 2017 über die Umsetzung des Gesetzes

ProNATs gab 2018 eine Presseerklärung von UNATSBO wieder

ProNATs berichtete 2019 über die Aufgabe des Gesetzes

Aktualisiert: 14.12.2020