Bewegungen arbeitender Kinder und Jugendlicher

Arbeitende Kinder und Jugendliche haben sich in Afrika, Asien und Lateinamerika in eigenen Organisationen zusammengeschlossen, um gemeinsam für ihre Rechte zu kämpfen und in ihren Ländern ebenso wie international mehr Einfluss zu gewinnen.

Wer sind die "NATs"?

Als NATs bezeichnen sich die arbeitenden Kinder und Jugendlichen in Lateinamerika, die sich in eigenen sozialen Bewegungen organisiert haben. NATs ist eine Abkürzung der spanischen Bezeichnung „Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores“. In Ländern, in denen Englisch oder Französisch gesprochen wird, haben sich andere Kurzbezeichnungen wie WCY (Working Children and Youth) oder EJT (Enfants et Jeunes Travailleurs) eingebürgert.

Weltweit arbeiten nach Schätzungen der International Labour Organisation (ILO) ungefähr 265 Millionen Kinder im Alter von 5 bis 17 Jahren. Die meisten arbeiten in der Landwirtschaft (z. B. subsistenzorientierte Familienökonomie, Exportplantagen) und im sogenannten informellen Sektor der großen Städte (z. B. auf der Straße, in Werkstätten, Haushalten wohlhabender Familien und anderen Dienstleistungen). Diese Kinder arbeiten, um für sich und ihre Familien Geld zu verdienen, aber nutzen ihren Verdienst vielfach auch, um sich eine Schulbildung zu finanzieren. Die meisten von ihnen leben und arbeiten unter Bedingungen, die ihre Menschenwürde verletzen und ihre persönliche Entwicklung gefährden.

Zum Teil spontane, zum Teil langfristig organisierte Gruppen

Ende der 1970er Jahre haben sich erstmals in Lateinamerika arbeitende Kinder zu sozialen Bewegungen zusammengeschlossen. Seit den 1990er Jahren entstehen auch in Afrika und in Teilen Asiens Zusammenschlüsse arbeitender Kinder. Gemeinsam woll(t)en sie für bessere Arbeitsbedingungen, Respekt und Partizipation kämpfen. 

In der Praxis findet man zwei verschiedene Formen von Kinderbewegungen, die sich in der Art und Weise ihrer Entstehung unterscheiden. Zum einen wird von spontanen Formen der Selbstorganisation arbeitender Kinder gesprochen, die hauptsächlich an ihren Lebens- und Arbeitsorten in den Städten oder Regionen entstehen. Aufgrund von z.B. Erfahrungen oder Auseinandersetzungen mit skeptischen bis feindlichen Erwachsenengruppen werden diese von den Kindern meist selbst initiiert.

Zum anderen haben sich Organisationsformen entwickelt, die teilweise über landesweit angelegte Strukturen verfügen. Ihre Mitglieder sind meist zwischen 6 und 18 Jahre alt. Bei dieser zweiten Form der Kinderbewegung geht die Initiative oft von Erwachsenen oder Jugendlichen aus, die sich für die Rechte und Belange der Kinder einsetzen. Gleichwohl steht die Mitwirkung von Erwachsenen dem Autonomieanspruch der Kinderbewegungen weder in dieser noch in der erstgenannten Form entgegen. Aufgrund des marginalen Status der Kinder und ihrer geringeren sozialen Anerkennung als handlungs- und organisationsfähige Subjekte ist die Unterstützung von Erwachsenen oder Jugendlichen meist sogar unvermeidlich. Sie wird auch von den Kindern oft selbst gewünscht. Hervorzuheben ist allerdings, dass die Erwachsenen nicht leitende, sondern beratende Funktionen wahrnehmen, d.h. die Kinder in jeder Hinsicht bei der selbständigen Artikulation und Organisierung ihrer Interessen und Rechte respektieren und unterstützen.

Finanziert werden die Kinderbewegungen über verschiedene Wege. Beispielsweise arbeiten sie mit Nichtregierungsorganisationen und anderen ihnen wohlgesonnenen Institutionen zusammen, die sie auch finanziell unterstützen. Des Weiteren gibt es in den meisten Kinderbewegungen Mitgliedsbeiträge, die unterschiedlich eingezogen werden. Einige Organisationen stellen Mitgliedskarten her, dessen Kaufpreis als Mitgliedsbeitrag gezählt wird, oder der Beitrag wird direkt vom Lohn jedes Mitglieds bezahlt. Auch werden Veranstaltungen (z. B. Theatervorstellungen, Fußballspiele) und Arbeitsprojekte (z. B. Herstellung von Kunsthandwerk) von den Bewegungen organisiert, um deren Einnahmen wiederum für Aktivitäten der Kinderbewegung zu verwenden. Manche Kinderbewegungen haben einen Solidaritätsfond geschaffen, aus dem lebensnotwendige Ausgaben einzelner Kinder bestritten werden, die anders ihre Notlage nicht bewältigen können. Das Geld für den Fond erbitten sie zum Beispiel von Geschäftsleuten, Ärzt*innen und anderen Personen, die über Ressourcen verfügen, oder zahlen selbst einen Teil ihres Verdienstes ein.

Bei aller Vielfalt gibt es gemeinsame Forderungen

Bei aller Verschiedenheit der Organisationsformen, der Herkunft und des kulturellen Kontextes der sich in allen Kontinenten organisierenden Kinder lassen sich einige Gemeinsamkeiten erkennen. Die arbeitenden Kinder

  • schaffen in gemeinsamer Anstrengung und Verantwortung eigene Ziele und selbstbestimmte Normsysteme und Strukturen.
  • berufen sich auf die weltweite Verbindlichkeit der Menschenrechte, insbesondere der Rechte, die in der UN-Kinderrechtskonvention (1989) festgelegt sind.
  • fordern neben Respekt und Anerkennung ihrer Arbeit auch Partizipation in allen sie betreffenden Belangen.

Vor allem wenden sich die arbeitenden Kinder und Jugendlichen dagegen, ihre Arbeit zu verbieten und abschaffen zu wollen, weil sie dadurch in die Illegalität gedrängt und kriminalisiert werden. Stattdessen verlangen sie, Armut und Ausbeutungsverhältnisse ins Visier zu nehmen und die Kinder dabei zu unterstützen, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichen. Sie wollen in Würde und freier Entscheidung arbeiten können, ihre Gesundheit nicht gefährden und Zeit zum Spielen und für die Schule haben. Die Kinder – unabhängig, ob in Asien, Lateinamerika oder Afrika – wollen weiter ihre Familien unterstützten und eine anerkannte, aktive Rolle in ihrer Gesellschaft spielen. Mitunter haben die Initiativen der Kinderbewegungen auch schon dazu beigetragen, ihre Lebenssituation zu verbessern.

Die Organisationen arbeitender Kinder verlangen bessere Bildungsmöglichkeiten und kostenlosen Zugang zur Schule ebenso wie zu Gesundheitsdiensten. Sie bestehen darauf, öffentliche Räume wie Straßen und Plätze nutzen zu können, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Um die ihnen in der UN-Kinderrechtskonvention zugebilligten Rechte Wirklichkeit werden zu lassen, halten die Kinder es für unabdingbar, dass ihre Organisationen sozial und rechtlich anerkannt werden und die Möglichkeit erhalten, in allen Angelegenheiten, die sie betreffen, mitzubestimmen. Sie verlangen von Regierungen und internationalen Organisationen, die enorme soziale Ungleichheit in ihren Ländern und zwischen Nord und Süd zu bekämpfen.

Neben dem verstärkten Einfluss, den arbeitende Kinder in der Gesellschaft zu erlangen versuchen, verstehen sie ihre Organisation auch als ein Mittel, um ein besseres Leben herbeizuführen. Zum Beispiel wird die Bewegung als Schutz vor Ausbeutung, schlechter Behandlung und der Geringschätzung durch die Gesellschaft wahrgenommen. Innerhalb ihrer Organisation fühlen sich die Kinder als würdige, fähige und vollwertige Personen und empfinden Stolz für ihre Arbeit. Dort können sie sich auch bilden, finden Raum für Solidarität und für die Erarbeitung von Vorschlägen und Alternativen zum bestehenden System von Armut und Gewalt, das für sie unzumutbar ist.

Was haben die Kinderbewegungen erreicht?

Die Forderungen der Kinderbewegungen stoßen weltweit auf große Widerstände. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Vorstellungen und Forderungen der Bewegungen arbeitender Kinder und Jugendlicher sich oft nicht mit dem decken, was Regierungen und internationale Organisationen wie die ILO für richtig halten. Ein nicht minder wichtiger Grund sind die grundverschiedenen Paradigmen von Kindheit, die aufeinanderstoßen. Die Kinder bestehen darauf, als arbeitende Kinder anerkannt zu werden. Dies widerspricht jedoch der gängigen (vor allem in den Industrienationen vorherrschenden) Vorstellung sowohl einer „beschützten Kindheit“, für deren Wohl die Erwachsenen zuständig sind, als auch die Vorstellung, dass Kindheit und Arbeit sich ausschließen. Von daher sind die Aktionen beider Seiten verschieden angelegt: die einen wollen vor allem Gleichberechtigung und eine stärkere Stellung in der Gesellschaft erreichen – die anderen beschränken sich auf Schutzmaßnahmen.

In einigen Ländern des Globalen Südens werden die Organisationen als legitime Vertretung der arbeitenden Kinder anerkannt. In manchen Städten – wie in Dakar (Senegal), La Paz (Bolivien) oder Lima (Peru) – haben Stadtverwaltungen und Regierungen mit den Kinderorganisationen Vereinbarungen über bessere Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten, den Schutz vor polizeilichen Übergriffen oder kostenlose Krankenversorgung der arbeitenden Kinder getroffen. Ebenso gibt es vereinzelt Gewerkschaften, die die Organisationen der arbeitenden Kinder als Partner akzeptieren oder sie als Mitglieder aufnehmen.

Meist werden die Organisationen der arbeitenden Kinder allerdings nicht gerne gesehen, ignoriert oder sogar als subversive Kräfte verdächtigt und diskriminiert. Dass Kinder politische Forderungen stellen, gilt als anrüchig und nicht kindgemäß. Demgegenüber verweisen die arbeitenden Kinder darauf, dass sie schon früh Verantwortung übernehmen und sich im Leben behaupten müssen und damit auch das Recht haben, in Gesellschaft und Politik mitreden zu können. Sie wollen nicht länger vom gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt und dem Wohlwollen der Erwachsenen ausgeliefert sein.

Gewählte Delegierte der NATs-Bewegungen kommen alle ein bis zwei Jahre auf nationalen und internationalen Treffen zusammen, um ihre Erfahrungen auszutauschen, die Lebenssituation der arbeitenden Kinder in anderen Teilen ihres Landes oder in anderen Ländern ihres Kontinents zu studieren, um gemeinsame Forderungen und Vorschläge zu formulieren und Aktionen und Strategien abzusprechen. Häufig werden die Kindertreffen von Treffen erwachsener Unterstützer*innen begleitet. In Afrika und Lateinamerika besteht je eine kontinentale Koordinationsstelle, in Asien ist eine mehrere Länder übergreifende Organisationsstruktur im Entstehen. Das erste Treffen auf Weltebene fand im Dezember 1996 in Kundapur (Indien) statt (siehe die „10 Punkte von Kundapur“, die bis heute wegweisend für die NATs-Bewegungen sind). Das zweite Welttreffen fand im April 2004 in Berlin, das dritte im Oktober 2006 in Siena (Italien) statt. In La Paz (Bolivien) fand 2017 ein „Internationales Forum: Öffentliche Politik mit arbeitenden Kindern: Erfahrungen und Perspektiven aus dem Globalen Süden“ mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen statt. Heute wird vor allem das Internet für den weltweiten Erfahrungsaustausch und gegenseitige Unterstützung genutzt.

Aktualisiert: 14.12.2020