„Welt ohne Kinderarbeit“ – ein postkolonialer Mythos

Wir halten es für wichtig, die Kontroversen um die Arbeit von Kindern und ihre Rechte in einen größeren geopolitischen Zusammenhang zu stellen. In diesem Zusammenhang erweist sich die vor allem von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) betriebene „vollständige Ausrottung der Kinderarbeit“ als neokoloniales Projekt. Da sein Scheitern programmiert ist, kann es als postkolonialer Mythos gelten.

Vom Nutzen post- und dekolonialer Theorien

In den vergangenen Jahrzehnten sind Denkströmungen entstanden, die den neuen Formen kolonialer Abhängigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung nachspüren und dekoloniale Alternativen aus der Sicht der kolonialen und postkolonialen Subjekte formulieren. Diese Denkströmungen firmieren unter verschiedenen Namen, wie Subaltern Studies, Postcolonial Studies, Befreiungsphilosophie, Kolonialität der Macht, Kolonialität des Wissens, Deskolonialität-Dekolonisierung oder Epistemologie des Südens. Sie haben bisher weder „Kinderarbeit“ und die auf ihre Abschaffung zielenden Politikansätze auf der einen Seite, noch arbeitende Kinder und ihre sozialen Bewegungen auf der anderen Seite in den Blick genommen. Aber sie können helfen, diese besser zu begreifen und in ihren historischen und geopolitischen Zusammenhängen genauer zu verorten.

Bei allen Unterschieden im Detail ist den genannten Denkströmungen gemeinsam, dass sie die vermeintliche Überlegenheit und den Vorbildcharakter der europäischen Moderne und die aus ihr abgeleiteten Modernisierungs- und Entwicklungskonzepte und -strategien in Frage stellen:

  • Sie machen darauf aufmerksam, dass die vermeintlichen Errungenschaften der europäischen Moderne das Ergebnis von Eroberung, Unterdrückung und Ausbeutung sind, die mit der rassistischen Abwertung und Diskriminierung der Menschen anderer Erdteile (und „Hautfarben“) einherging. Sie setzen sich in postkolonialen Abhängigkeitsverhältnissen fort und reichen mit der massenhaften Migration heute bis nach Europa und in die USA.
  • Sie wenden sich gegen die Fortdauer der weltweit ungleichen Machtverhältnisse, die Missachtung des Wissens und der Lebensweisen der Menschen in den ehemaligen Kolonialgebieten. Hinsichtlich des Wissens und der Lebenspraxis zeigen sie eigenständige und eigensinnige „transmoderne“ und „interkulturelle“ Alternativen auf, die auf den Erinnerungen der kolonialen und den Erfahrungen der postkolonialen Subjekte beruhen. 

Was bedeutet dies für den Umgang mit der Arbeit von Kindern?

Aus eurozentrischer Sicht ist das arbeitende Kind eine Beleidigung für den „aufgeklärten“ und „gebildeten“ Menschen, und zwar auf eine vertrackte, in sich verschlungene und geheimnisvolle Weise. Während die europäische Aufklärung das Bild des unschuldigen, unreifen und zu erziehenden Kindes hervorbrachte, verschliss der entstehende Kapitalismus die „einheimischen“ Kinder der Armen rücksichtslos in Manufakturen, Fabriken und Bergwerken und in noch weit größerer Zahl die „fremden“ Kinder in den Plantagen und Bergwerken der fernen Kolonien. Noch als die „Kinderarbeit“ in Europa zum Menetekel wurde, wurde sie in den Kolonien weiter vorangetrieben und selbst von aufgeklärten Menschen lange ignoriert. Wenn heute aus Europa heraus eine „Welt ohne Kinderarbeit“ propagiert wird, geschieht dies, um sich der eigenen Humanität und Aufgeklärtheit zu versichern und der eigenen Fortschrittlichkeit und Überlegenheit in den ehemaligen Kolonien ein Denkmal zu setzen. Das Projekt einer „Welt ohne Kinderarbeit“ ist die Fortführung des vorgeblich humanistischen Diskurses, der auch schon die kriegerisch-gewaltsamen kolonialen Praktiken begleitet und legitimiert hat.

Der Politik „gegen Kinderarbeit“ liegt ein eurozentrisches Kindheitskonzept zugrunde, das als die höchst entwickelte und einzig mögliche Form von Kindheit propagiert wird. Es wird als Endpunkt einer Entwicklung dargestellt, die in Europa ihren Ausgang genommen hat und nun im „Rest der Welt“ zur Vollendung kommen soll. Dabei bleibt die Tatsache ausgespart, dass auch in „westlichen“ Gesellschaften Kinder vielfältige ökonomisch wichtige Tätigkeiten ausüben, darunter solche, die in den Bereich der zu bekämpfenden „Kinderarbeit“ fallen.

Der Export dieses Kindheitskonzepts wird mit einem (vage bleibenden) Konzept formaler Bildung verknüpft, das sich am europäischen, als „modern“ und höchst entwickelt geltenden Modell von Schule orientiert. Es wird mittels des Gedankens der Schulpflicht ausdrücklich „gegen Kinderarbeit“ in Stellung gebracht (als Karikatur des „Rechts auf Bildung“), wobei noch nicht einmal mit bedacht wird, dass es auch in der westlichen Welt seit langem Bildungskonzepte gibt, die mit Arbeitserfahrung oder wirtschaftlichen Aktivitäten in Verbindung gebracht werden. Für den „Rest der Welt“ gilt die einfachste Urform als ausreichend, die schon seit den Missionsschulen den kolonisierten Bevölkerungen aufgedrängt wurde (zusammen mit den Kolonialsprachen). Andere, mit dem Leben, der Community (Community Education) oder mit Arbeit verknüpfte Bildungskonzepte (z.B. des französischen Pädagogen Freinet) werden ignoriert; die in indigenen Gemeinschaften praktizierte und erworbene Bildung wird abgewertet und marginalisiert. Bestenfalls werden in Ausnahmefällen Konzepte bilingualer Schulbildung geduldet, die aber die Muttersprache nicht als Erstsprache zulassen, sondern nur als Zweitsprache tolerieren. Das gegen „Kinderarbeit“ in Stellung gebrachte Bildungsmodell dient als Vehikel der Modernisierung nach eurozentrischem Muster einschließlich des Musters instrumenteller Rationalität, auf der der Kapitalismus im Wesentlichen basiert.

Vom postkolonialen Mythos einer „Welt ohne Kinderarbeit“

In der Propagierung der „Welt ohne Kinderarbeit“ (die vollständige Abschaffung der „Kinderarbeit“ wurde immer wieder verschoben, jetzt bis 2025, laut ILO) wird unterschlagen, dass die weitgehende Zurückdrängung und Tabuisierung von „Kinderarbeit“ in den „entwickelten“ westlichen Ländern auf Kosten der Ausbeutung der Kolonien zustande kam. Der relative materielle Wohlstand der westlichen Länder basiert unter anderem auf der mit Macht fortgesetzten Ausbeutung der Menschen und dem ungleichen Handel mit den nun formal unabhängigen Nachfolgestaaten der ehemaligen Kolonien und befestigen und vergrößern sogar deren Abhängigkeit und Armut.

Das Projekt einer „Welt ohne Kinderarbeit“ wird von oben (formuliert an Genfer und New Yorker Schreibtischen) mittels internationaler Konventionen und (von reichen Staaten und Stiftungen gespendeter; siehe IPEC-Programm der ILO) „nationaler“ Aktionsprogramme durchgedrückt, ohne die Lebensrealität der arbeitenden Kinder (und ihrer Familien) und die kulturell verankerten Logiken des Aufwachsens zu berücksichtigen. Lokale Sichtweisen und namentlich die Sichtweisen der Kinder werden missachtet und als kulturell rückständig oder „unreif“ abgewertet und unterdrückt. Partizipation wird auf die formale Gestaltung von Durchführungsmaßnahmen beschränkt, deren grundlegende Zielsetzung und Inhalte vorab von außen und oben festgeschrieben werden.

Das Projekt einer „Welt ohne Kinderarbeit“ steht im Widerspruch zur fortgesetzten Ausbeutung der postkolonialen Länder und ihrer Bevölkerungen, die die Armut aufrechterhält und die Arbeit der Kinder als Beitrag zur Lebenssicherung unverzichtbar bleiben lässt. Nicht-kapitalistische Formen des Wirtschaftens (z.B. „Solidarische Ökonomie“) werden bestenfalls als Nischenökonomie oder aus der Not geborene „Selbsthilfe“ geduldet. Selbst bei selbstverwalteten Kinderkooperativen werden Kinder an der Ausübung jeglicher Arbeit gehindert.

Das Projekt einer „Welt ohne Kinderarbeit“ wird zwar aus den genannten Gründen nie Realität werden, es dient jedoch der diskursiven Humanisierung des Kapitalismus sowie als ideologische Verbrämung der „Fortschrittlichkeit“ der westlichen Welt und der vermeintlichen Rückständigkeit und mangelnden Zivilisiertheit und Zivilisierbarkeit der einheimischen Bevölkerungen. Es dient damit dazu, die Überlegenheitsphantasien der westlichen Welt und die Unterlegenheitsgefühle der Menschen im „Rest der Welt“ aufrechtzuerhalten. Ein Produkt ist die Vorstellung des arbeitenden Kindes als „verkindlichtes“ subalternes Wesen, das eher als vormensch­lich denn als menschlich wahrgenommen wird; sie bringt die Gefahr mit sich (und ist auch so intendiert), die (arbeitenden) Kinder ihres Selbstvertrauens und ihrer Handlungsfähigkeit zu berauben.

Denkalternativen zur „Welt ohne Kinderarbeit“

Die Kritik des Projekts einer „Welt ohne Kinderarbeit“ entspricht der Notwendigkeit, eingeschliffene Begriffe und Denkweisen zu hinterfragen und der monopolistischen Arroganz entgegenzuwirken, die die europäische Moderne für sich beansprucht.

  • Die Anerkennung und Bewusstmachung vielfältiger „anderer“ Kindheiten (in der Gestalt selbstbewusster arbeitender Kinder) trägt dazu bei, das überkommene westliche Kindheitsmodell als vorübergehende Episode erscheinen zu lassen.
  • Die Bewegungen arbeitender Kinder lassen andere Logiken des Aufwachsens und Handlungsformen von Kindern sichtbar werden, die über die nationalen Grenzen hinaus politisch folgenreich werden können.
  • Die Bewegungen arbeitender Kinder können dazu beitragen, sich der kolonialen Verwundung bewusst zu werden und dagegen aufzubegehren. Sie verkörpern eine Perspektive der Befreiung von unten, die über die Emanzipation im Generationenverhältnis hinausweist.
  • Statt „Befreiung von Kinderarbeit“, die mit den arbeitenden Kindern umspringt, als seien sie beliebig verfügbare Objekte, geht es um die (Selbst-)Befreiung der arbeitenden Kinder, die den Schmerz der Ungerechtigkeit am eigenen Leib erleben. Damit ist auch die Frage der Menschenwürde arbeitender Kinder aufgeworfen.
  • Mit ihrer Forderung nach einem „Recht, in Würde zu arbeiten“ vertreten die Bewegungen arbeitender Kinder nicht irgendein abstraktes, ihnen äußerliches Recht; in ihr artikuliert sich das körperliche Erleben und Leiden derer, die ausgeschlossen sind.
  • Die Bewegungen der arbeitenden Kinder verkörpern eine kollektiv selbstbestimmte kreative und kritische Kultur; in ihr wird eine „andere“ Kindheit sichtbar, in der die Kinder nicht länger aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben ausgeschlossen, sondern mitbestimmende und mitverantwortliche soziale Subjekte sind. 

Aktualisiert: 14.12.2020